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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 50. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Die Blinde.
Weihnachtserzählung von August Schrader
(Fortsetzung.)

„Also ist es dennoch eingetroffen, vor dem ich sie zu schützen bemüht war!“ dachte sie. „Sie liebt mit der Schwärmerei, die diesem armen Wesen eigen zu sein pflegt. Ach, und ihre Liebe ist eine hoffnungslose, denn wer wird eine arme Blinde wieder lieben?“

Ueberwältigt von Schmerz, bedeckte sie die Stirn der Tochter mit Küssen. Sie wollte trösten, aber sie vermochte es nicht, wenn sie den lauten Ausbruch ihrer Gefühle verhindern wollte.

„Mutter,“ flüsterte bebend Cäcilie, „Du weinst – ich fühle es, denn Deine Thränen perlen auf meine Wangen. Sieh’, das ist mein Kummer! Ach, ich wußte es wohl, daß Dir dieses Bekenntniß Schmerz bereiten würde, denn Du liebst mich ja und willst mich glücklich wissen. Darum verbarg ich mein Herz vor Dir, darum solltest Du nie erfahren, daß es außer Dir, die Du mich verstehst, noch ein Wesen giebt, das ich liebe. Mutter, Mutter, zürne mir nicht,“ rief sie schluchzend, „denn ich habe alle Mittel angewendet, die mir der Verstand rieth! Wenn den jungen Prediger nicht schon ein Band der Liebe bindet, fragte ich mich – wird er dich, das blinde Mädchen, lieben können? Und wenn du wirklich das Glück hättest, mit ihm in ein näheres Verhältniß zu treten, ist es nicht möglich, daß er den Eindruck zerstört, den seine Stimme und seine Rede hervorgebracht hat? So kämpfte ich mit mir selbst, aber es war vergebens, die Regung meines Herzens zu besiegen. Zitternd folgte ich Dir zur Kirche, wenn Du mich dazu auffordertest, denn ich fürchtete die Stimme wiederzuhören, die mein Leiden nur noch vergrößern mußte. Mutter,“ rief sie mit flehender Stimme, „weine nicht, hier in der Einsamkeit, nur umgeben von Deiner Liebe und Deiner Sorgfalt, wird es mir gelingen, den Frieden meiner Seele wieder herzustellen, Du wirst mir bald wieder Alles sein, das einzige Licht, das meine Nacht erhellt!“

Cäcilie umschlang von Neuem ihre Mutter, die noch beklagenswerther war, als sie selbst. Denn giebt es wohl einen größern Kummer, einen herbern Schmerz als den, ein junges reizendes Wesen unter den Qualen einer glühenden Leidenschaft dahinwelken zu sehen? Und Cäcilie war ihre Tochter, die einzige Frucht einer glücklichen Ehe, die der Tod des Gatten frühzeitig gebrochen hatte. Da saß das arme Geschöpf, ein Meisterwerk der Natur, aber nur halb vollendet, denn die schönen glänzenden Augen waren dem Lichte verschlossen, sie konnten das Lächeln der Mutterliebe, die herrliche Natur nicht sehen. Die arme Blinde konnte nur das Glück in ihrem eigenen Herzen finden, sie konnte nur in der kleinen, begrenzten Welt selbstgeschaffener Wesen leben, und diese Welt ward ihr durch eine hoffnungslose Liebe verkümmert. Die Mutter begriff ganz den Zustand ihres Kindes, und wie ein tödtlicher Pfeil war die Gewißheit desselben in ihr Herz gedrungen.

„Mein Kind,“ sagte sie, mit übermenschlicher Kraft nach Fassung ringend, „hätte ich Dir einen Vorwurf zu machen, so wäre es der, daß Du so lange allein Deinen Schmerz getragen hast. Jede Mittheilung, einem liebenden, theilnehmenden Wesen gemacht, erleichtert die Brust –“

„Gewiß, Mutter, gewiß!“ rief eifrig die Blinde, indem sie ihr schönes, von den feuchten Locken umwalltes Haupt emporhob. „Auch Du hast die Stimme gehört, die feurige, schöne Rede – nicht wahr, nur ein edler, fühlender und gebildeter Mann, ein aufgeklärter und kühner Geist kann so sprechen? Schon oft hatte ich zuvor über das Thema nachgedacht, das er zu seiner Predigt gewählt, aber nie bin ich auf solche Gedanken gekommen. Wie anders werde ich das nächste Christfest begehen – wie anders würde ich es begehen,“ fügte sie traurig hinzu, „wenn ich Dessen nicht gedenken müßte, der meine Ansichten geläutert hat. Vergieb mir, Mutter,“ flüsterte sie leise und indem sie das himmlische, aber blinde Auge emporschlug, „vergieb mir, denn ich bin noch nicht geheilt!“

Wie zum Gebet legte Cäcilie ihre kleinen Alabasterhände zusammen, und sah still vor sich hin. Ein schmerzlich wehmüthiges Lächeln, die eben so reine als heftige Liebe verrathend, verklärte das Engelsgesicht zu dem einer frommen Dulderin. Dem Auge der Mutter konnte der ganze Umfang dieser Leidenschaft nicht entgehen, denn sie wußte, daß bei dem jungen, des Gesichtes beraubten Mädchen jedes Ereigniß einen starken, unauslöschlichen Eindruck hervorbrachte. Alle Gefühle bei ihr sind reizbarer, das Herz empfänglicher, und der einmal herrschende Gedanke, in der Nacht der Blindheit genährt, enthält durch die leicht entzündbare Phantasie, dieses helle Licht der Blinden, eine verheerende Gewalt.

„Ich bin reich, und Cäcilie ist schön,“ dachte die hoffende Mutter – „ich werde bald erfahren, wer der Gegenstand ihrer Liebe ist. Es wird ja noch ein Mittel geben, mein armes Kind glücklich zu machen.“

Die Schloßuhr schlug zehn. Die Kammerfrau trat ein, und bot den Damen ihre Dienste an. Bald war die Nachttoilette vollendet, die Cäcilien noch reizender machte. Mit einem schmerzlichen Wohlgefallen betrachtete die Mutter ihre Tochter, und was die liebende Hoffnung angeregt, vollendete die mütterliche Eitelkeit.

„Man muß sie lieben, auch wenn sie blind ist?“ dachte sie. „Und wie kann das Herz eines solchen Mädchens der Liebe verschlossen bleiben? Ich war thöricht, dem Triebe der Natur entgegenzutreten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 605. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_605.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)