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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Hingebung an jede politische und kirchliche Autorität und durch blinden Fanatismus gegen jedes selbstständigeres Denken oder Wollen auf weltlichem wie auf kirchlichem Gebiete auszeichnen, so brauchen wir ihm nur die amtlichen Tabellen der Criminalstatistik vor die Augen zu halten, welche darthun, daß nirgends mehr gemeine Verbrechen der gröbsten Art vorkommen, als eben unter diesen „naturwüchsigen“ und „unverbildeten“ Bevölkerungen, um ihn mit seiner ungewaschenen Lobrede zum Schweigen zu bringen.

Man hat diese wichtigen Vortheile der Statistik in der neuern Zeit fast überall anerkannt und gewürdigt. Die Länder, welche die entwickeltste Industrie und Volkswirthschaft besitzen, (wie England, Belgien, unter den deutschen Staaten besonders Preußen und Sachsen) haben sich der Statistik mit dem größten Eifer angenommen und es ist wohl keine unbegründete Annahme, wenn man diesen letztern Fortschritt für eine wesentliche mitwirkende Ursache jenes ersten ansieht. Es wird kaum eine größere politische Rede im englischen Parlamente gehalten, die nicht gespickt wäre mit zahlreichen statistischen Angaben, und es kommt kaum ein Gesetzentwurf von nur einiger Wichtigkeit bei den belgischen Kammern zur Vorlage, der nicht zu seiner Begründung ein Heer von Zahlen aufmarschiren ließe.

Wenn wir daher im Nachstehenden den Versuch machen, unsern Lesern gewisse kulturgeschichtliche Verhältnisse vorzuführen, bei deren Darstellung die statistischen Daten und Zahlen eine überwiegende Rolle spielen, so halten wir uns durch die eben vorausgeschickten Betrachtungen über den Werth solcher statistischer Angaben für gerechtfertigt und geben uns der Hoffnung hin: die Aufmerksamkeit und das Interesse der Leser werde uns auch dabei nicht im Stiche lassen. Wir beginnen mit den Bevölkerungsverhältnissen.

Daß die Bevölkerung aller civilisirten Länder in einem fortwährenden Wachsthume begriffen sei, dürfen wir als eine allgemein bekannte Thatsache voraussetzen. Das Maß dieses Wachsthums ist ein verschiedenartiges: es richtet sich theils nach dem Kulturgrade der Länder, theils nach den für Aufnahme und Ernährung einer größern Bevölkerungszahl vorhandenen natürlichen Bedingungen. In Gegenden mit noch dünner Bevölkerung wird natürlich diese, bei übrigens gleichen Verhältnissen, sich schneller vermehren, als in solchen, die bereits stark bevölkert sind. Die Leichtigkeit des Fortkommens, das Erwerben von Grundeigenthum oder der Betreibung irgend eines, noch nicht durch massenhafte Concurrenz übersetzten Nahrungszweiges zieht von auswärts Ansiedler herbei und veranlaßt unter der eingebornen Bevölkerung häufigere, frühere und fruchtbarere Ehen, als in der Regel dort stattfinden, wo jeder nicht absonderlich vom Glück Begünstigte nur unter den größten Mühen und Sorgen für sich und eine zu gründende Familie ein Auskommen zu finden hoffen darf. So erklärt sich leicht die wahrhaft colossale Vermehrung der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, abgesehen von den politischen Zuständen dieses Landes, die für Viele ebenfalls ein Anreiz zum Uebersiedeln dorthin sind. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten hat sich von 1799 bis 1850, also in ohngefähr 50 Jahren beinahe versechsfacht; 1799 betrug sie noch nicht 4, 1850 nahezu 24 Millionen. Noch staunenswerther ist diese Zunahme bei einzelnen Orten; so zählte New-York vor 50 Jahren erst 60,000 Einwohner, jetzt hat es deren (ohne die gewöhnlich mit hinzu gerechneten Nachbarorte) über 600,000, also zehnmal so viel. In Europa stellt sich das Durchschnittsverhältniß der Bevölkerungsvermehrung nach den bisherigen Erfahrungen etwa wie 1 zu 80–100, d. h. auf je 80 oder 100 Köpfe der Bevölkerung kommt jährlich ein Kopf mehr, also auf die 42 Millionen Menschen, die man für Deutschland berechnet, jährlich 420,000 bis 520,000. Beiläufig gesagt erhellt hieraus, wie unbegründet die Besorgnisse wegen einer Entvölkerung Deutschlands durch die Auswanderung sind. Denn, wenn auch jährlich 100,000 und noch mehr Menschen auswandern, so beträgt dies immer erst etwa 1/4 des jährlichen Bevölkerungszuwachses.

Bemerkenswerth ist, wie sich das angegebene Durchschnittsverhältniß verschiedenartig modificirt in Bezug auf die bedeutendsten Staaten Europa’s. Nach den Beobachtungen der letzten zwanzig Jahre glauben Manche, daß die Bevölkerung sich verdoppeln werde: in Preußen und Deutschland binnen 30 Jahren, in England binnen 42, in Rußland binnen 66, in Oesterreich binnen 70, in Frankreich erst binnen 130. Andere setzen die Zahl der Jahre, binnen denen eine Verdoppelung der Bevölkerung zu erwarten wäre, folgendermaßen fest: für Rußland 48, Oesterreich 511/2, England 52, Frankreich 125. Nach den bewährtesten statistischen Angaben dagegen scheint die Bevölkerungsvermehrung in den vier Hauptkulturstaaten: England, Preußen, Oesterreich, Frankreich nach der Reihenfolge, in der wir sie hier anführen, vor sich zu gehen. Diese Verschiedenheit rührt theils von den verschiedenen Graden der Dichtigkeit der schon vorhandenen Bevölkerungen, theils von andern Ursachen her. Wäre das erste Moment allein ausschlaggebend, so müßte Rußland die stärkste Bevölkerungsvermehrung haben, denn es beherbergt auf 530 Millionen Hektaren Land nur erst 66 Millionen Menschen; England dagegen die schwächste, denn dort leben auf 31 Millionen Hektaren bereits 29 Mill. Menschen, beinahe auf jeder Hektare einer. In der Mitte liegen Oesterreich, wo auf 68 Mill. Hektaren 39 Mill. Einwohner, Frankreich, wo auf 53 Mill. Hektaren 36 Mill. Einwohner, Preußen, wo auf 28 Mill. Hektaren 17 Mill. Einwohner und das übrige Deutschland, wo auf 24 Mill. Hektaren 18 Mill. Einwohner kommen. Wenn statt dessen die oben angegebene Reihenfolge stattfindet, so ist dies ein Beweis, daß die größere geistige und industrielle Kultur, die größere politische Freiheit und Selbstthätigkeit des Volkes, und das durch alles Dies erzeugte größere Wohlbehagen wesentlich zur Steigerung des Bevölkerungszuwachses mitwirken. Das auffallende Mißverhältniß, worin Frankreich (und zwar übereinstimmend nach allen Annahmen) gegen England, Preußen und selbst Oesterreich steht, läßt sich nur aus dem Mangel eines entwickelten Familienlebens und den in diesem Punkte herrschenden leichtfertigeren Sitten der Mehrzahl des französischen Volkes erklären. Bekannt ist, daß in Frankreich sowohl die Ehelosigkeit verbreiteter als auch die Fruchtbarkeit der Ehen durchschnittlich geringer ist, als irgend wo anders, indem man daselbst nur zwei, höchstens drei Kinder auf eine Ehe rechnet, während in England und Deutschland die Durchschnittszahl zwischen vier und fünf beträgt.

Natürlich hat auch in den einzelnen Ländern die gesteigerte Kultur ein gesteigertes Wachsthum der Bevölkerung zur Folge gehabt. Weniger durch die vermehrte Zahl der Geburten, als durch die verminderte Sterblichkeit. Denn, wenn auch die Steigerung der Gewerbsthätigkeit, und die Verbesserung der technischen Hülfsmittel für dieselbe, die vervollkommnete Gesetzgebung und die erhöhte gewerbliche und überhaupt geistige Bildung der Völker den Einzelnen viele neue Wege des Fortkommens aufschließen und es dadurch möglich machen, daß auf dem gleichen Raume eine viel größere Bevölkerung als ehedem, sich ernähren und wohlbefinden kann, so ist es doch natürlich, daß, je mehr die Bevölkerung anwächst, desto schwerer für den Einzelnen die Begründung eines Hausstandes, die Ernährung einer Familie werden muß. Zeiten langen friedlichen Behagens und eines gleichmäßigen allgemeinen Wohlstandes sind daher der Vermehrung der Ehen und der Geburten bisweilen weniger günstig, als solche Zeiten, welche auf verwüstende Kriege oder große Handelscalamitäten folgen, während deren die Bevölkerungsbewegung still stand oder zurückging. So ist die Zahl der geschlossenen Ehen im Verhältniß zur Bevölkerungszahl in Deutschland kaum wieder so groß gewesen, als unmittelbar nach dem Ende des 30jährigen Kriegs. Indeß finden wir doch im Allgemeinen eine, wenn auch nur geringe Zunahme der Geburten im Verhältniß zu ehemals. Die Klage, daß das Eingehen eines Ehebündnisses und die Gründung eines eigenen Haushaltes heutzutage viel schwerer und in der Regel erst in weit späterem Alter möglich sei, als zu den Zeiten unserer Groß- und Urgroßväter, erweist sich, im allgemeinen Durchschnitt, als unbegründet, denn schon damals konnte ein großer Theil der männlichen Jugend selten vor dem 30. Jahre an’s Heirathen denken, und namentlich in den größern Städten fanden Ehebündnisse wohl kaum häufiger und kaum in früherem Alter statt, als gegenwärtig. Man schob dies damals (wie auch wohl noch heute öfters) auf den eingerissenen Luxus, besonders aber auf den Mangel an Wirthschaftlichkeit und die verschwenderischen Sitten des weiblichen Geschlechts. Auffallend ist in der damaligen Zeit die geringe Fruchtbarkeit der Ehen gerade in den reichsten und blühendsten Städten. In Berlin rechnet man durchschnittlich 3,8 Kinder auf eine Ehe, in Augsburg 3,3, in Leipzig 2,9 und eine Zeit lang gar nur 2,6. Der allgemeine Durchschnitt (3,13 für die sämmtlichen preußischen Lande) war 4,2 Zwischen 1815–30 dagegen betrug derselbe in Preußen 4,22, in Sachsen 4,58, in Württemberg 4,76, – überall also mehr, als früher.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_634.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)