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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

starkes Zimmer), eine kleine, dunkle Gefängnißzelle, auf Stunden, Tage und Wochen, je nach der Größe und Wiederholung des Vergehens. Unser Lord, der drei ganz fürstlich eingerichtete Zimmer bewohnte, verschaffte sich den ungesetzlichen Wein auf folgende Weise. Sein Diener holte sich jeden Morgen von 12–20 ärmeren Mitgefangenen Ordres auf je eine halbe Flasche Wein und kam damit jeden andern Morgen am Thore der Controle an, wo er für jede Flasche einen Kunden angab. Die Controleurs lächeln, da dem Gesetze Genüge geschehen, und lassen ihn jeden Morgen direct mit dem schweren Flaschenkorbe zu seinem Herrn marschiren. Da der Lord auch jede Nacht Karte spielt und nie mit einem Spiele zweimal, bringt der Diener auch jeden Morgen ein funkelnagelneues Kartenspiel mit. Jeden Morgen wurde gefragt, zu welchem Zwecke er es mitbringe. Jeden Morgen antwortete er, daß der junge Lord Bilder und Gemälde liebe, und er sich diese Kunstproducte mit Muße besehen wolle. Auch das genügt, da das Gesetz zwar Kartenspiel verbietet, aber nicht das Studium schöner Künste. Und da das schöne Geschlecht den Tag über bis 10 Uhr Abends ungehindert Zutritt findet, fehlt es nie an theilnehmenden, zarten Seelen, am Wenigsten dem gefangenen, jungen Löwen. Wer hier Geld hat, genießt alle Freuden des Lebens ohne dessen Sorgen, nur mit Ausnahme des Privilegiums, das ziemlich weite Bereich der äußern Mauern nach Belieben verlassen zu können. Das gilt wenigstens ganz wörtlich von Denen, und zwar ziemlich Vielen, die beschlossen haben, nie ihre Schulden zu bezahlen, sondern hier ihr Leben zu beschließen. So zeigte man mir unter den Cricketspielern einen alten, blühenden, kahlköpfigen, lustigen Gentleman, der wegen 120,000 Pfund Sterling schon seit 12 Jahren „saß“ und nur manchmal besorgt war, daß seine Frau die Gläubiger beschwichtigen und ihn so aus seinem Paradiese herausholen könne. Es gäbe keinen größern Unsinn, soll er gewöhnlich sagen, als seine Schulden zu bezahlen, da man damit nur Geld durchbringe, sein Vermögen aber gerade recht hübsch für ihn und seine Familie hinreiche, um es bis zu einem anständigen Grabe zu bringen.

Jeder, der als Bewohner nach Queen’s Bench gebracht wird, kann sich unter den leer stehenden Zimmern eins aussuchen und gegen wöchentliche Bezahlung (5 bis 15 Schillinge für eins) miethen und ganz nach seinem Belieben und seinen Mitteln sich Essen und Trinken, Kleider, Bücher u. s. w. entweder bringen oder holen lassen oder in dem Hotel des Gefängnisses speisen oder sein eigener Koch sein. Es wohnt denn eben Jeder Chambre garni, natürlich kann er sich auch leere Zimmer nehmen und sie nach seinem Geschmacke selbst ausmöbliren.

Aber die Schiffbrüchigen des Geschäfts und der Zahlungsverpflichtungen ohne Mittel? Das ist freilich schlimm. Wer ohne Mittel in’s Schuldgefängniß kommt, wird noch mehr über die Achsel angesehen, als der Mittellose im freien Leben Englands. Er gilt für einen Pinsel, muß mit 3–4 andern Pinseln zusammenwohnen und essen und trinken, was ihm die Schuldgefängnißregierung vorsetzt. Doch hungern braucht er dabei auch nicht, er bekommt sogar täglich sein Bier und jede Woche dreimal Fleisch, welches Sonntags gebraten ist. Das klingt den Umständen nach ganz human. Aber bei alle der Lustigkeit, die um mich her rauschte und lärmte, bemerkte ich doch Viele, denen die pure Verzweiflung auf der Stirn stand, sah ich doch mit Entsetzen leibhaftig die furchtbare Barbarei, welche hier noch Jeden, der seinen Gläubiger nicht befriedigen konnte, zeitlebens zum Gefangenen desselben macht. Oft handelt es sich nur um eine Kleinigkeit, die aber der Unglückliche um so weniger auftreiben kann, als ihm die geraubte persönliche Freiheit jede Möglichkeit dazu abschneidet. Die Barbarei ist um so größer, weil in den modernen, complicirten Geschäfts-, Productions- und Handelsverhältnissen die Schuld von Insolvenzen oft ganz außerhalb der Berechnung des Einzelnen, oft sogar in ferne, faule politische und diplomatische Verhältnisse fällt. Zwar giebt es eine Vorhölle zu Queen’s Bench, den großen Saal in der City, „White Cross“ (weißes Kreuz) genannt, wo oft Hunderte von Candidaten des Schuldgefängnisses vorläufig zusammensitzen, bis über die Art ihrer Insolvenz und ihrer Bankerotte entschieden ist. Der Gefangene, der hier genau nachweisen kann, daß seine Zahlungsunfähigkeit ganz außer seiner Schuld liegt, wird freigelassen, muthwillige, fahrlässige und betrügliche Bankerotts müssen zum Theil durch lange „harte Arbeit“ in besondern Gefängnissen gebüßt werden. Aber wie oft kann die Schuldlosigkeit nicht gerichtlich nachgewiesen werden? Wie oft kommt die Unschuld erst an den Tag, wenn die ganze bürgerliche Existenz des Gefangenen ruinirt ist! Der Deutsche, den ich besuchte, erzählte mir einen wahrhaft entsetzlichen Fall.

Ein Franzose war nach dem zweiten December Napoleon’s mit seiner jungen Frau nach London geflüchtet. Hier hatte er einen Jugendfreund aus Paris in dem größten Elend gefunden und ihn zu sich in’s Haus genommen, ihn gekleidet, gepflegt und behandelt, wie es nur ein großmüthiger Freund kann. Er war großmüthig, denn er behielt ihn auch noch bei sich, nachdem er ihn erst zart, dann entschieden wegen der Freiheiten, die er sich gegen seine junge Frau erlaubte, hatte zur Rede stellen müssen. Eines Morgens nun läuft der Großmüthige plötzlich in die Arme zweier Policemen, die einen Verhaftsbefehl gegen ihn vorzeigen und ihn in’s Schuldgefängniß bringen. Hier wird ihm mitgetheilt, daß er dem bei ihm wohnenden Franzosen so und so viel Geld schuldig sei, und dieser eidlich und durch Zeugen erklärt habe, daß er sich seiner Verpflichtung durch Verlassen des Landes entziehen wolle. Der Mann, anfangs fast sprachlos vor Erstaunen, bittet und beschwört, daß man die Sache sofort untersuchen möge, hier müsse ein absoluter Irrthum zu Grunde liegen. Man weist ihn kaltblütig auf die übliche Praxis hin, nach welcher er warten müsse, bis die Reihe an ihn komme und schließt ihn mit den Andern in den großen Saal von White Cross ein. Wie er an die Reihe kam, war sein Ankläger nicht da, sodaß er bis zu einem zweiten Termine warten mußte. Da endlich stellt sich heraus, daß der gepflegte Freund, nachdem er alle dessen Sachen bis auf das letzte Stück verkauft, mit dessen Frau London verlassen habe. – Ich bemerke hier, daß auch die englische Habeas-Corpus-Akte ihre Löcher hat. Erstens schützt sie den Ausländer viel weniger, als den englischen Bürger und auch letztern nicht, wenn es gelingt, einen absoluten Verhaftsbefehl gegen ihn zu bekommen. Dieser wird aber in solchen Fällen, wo der angebliche Gläubiger nachweisen kann (durch Eid oder Zeugen), daß der Schuldner das Land verlassen wolle, gegeben. Stellen sich hinterher auch Eid und Zeugen als falsch heraus, hilft dies natürlich dem Opfer nichts mehr.

Nur noch ein Wort über meinen Besuch bei dem deutschen Bewohner des Queen’s Bench. Er war Public-house-Wirth (Besitzer eines Bierlokals u. s. w.), gewesen und saß nun hier mit ein Paar Dutzend englischen Collegen, die mehr Bier losgeworden waren, als ihren Kassen und Verpflichtungen lieb war. Er zumal, als ein lustiger, sanguinischer Herr, hatte einer Masse Gästen, die sich alle militärisch titulirten (mit „Capitain“ als dem niedrigsten Grade) die Rechnungen ellenlang wachsen lassen, da die erwarteten Summen von den großen Gütern in allen Gegenden Europa’s nicht immer zu rechter Zeit, in der Regel sogar zu gar keiner Zeit ankamen, wie ihre Güter auch auf gar keinem irdischen Fleck Erde lagen. Obgleich er nun die Rechnung niemals ohne den Wirth gemacht hatte, da er immer dieser selbst war, wohnte er nun doch plötzlich hier in Queen’s Bench sehr viel Treppen hoch für 5 Schillinge wöchentlich mit einer sehr schönen Aussicht auf unbegrenzten Rauch, aus dem nach allen Seiten Schornsteine schwarzgrau und entsetzlich von Gestalt hervorragten, und befand sich den Umständen nach ganz wohl, zumal da er mit dem jungen gefangenen Löwen von Lordssohn fortwährend auf die heiterste Weise alle Hausgesetze übertrat. Jetzt kann er das freilich nicht mehr, denn erst vor einigen Tagen begegnete ich ihm in dem Paradiese aller höhern Pflastertreter Londons, der Regent-street, als dem freiesten Manne.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_007.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)