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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Ein blauer Flor breitete sich allmälig über die Dächer, welche aus einer Seitenschlucht, beiderseits von hohen Waldhängen begrenzt, zu mir heraufschauten. Mit ihm mischten sich blaue Wölkchen, welche aus den Wipfeln der gegenüberliegenden Buchenwand emporwirbelten. Die schnelle Abkühlung unten im Thale rief aus der Luft die unsichtbaren Wassergeister zusammen und verwandelte sie in kleine Thauperlchen, aus denen am andern Morgen die großen demantnen Tropfen zur Erquickung der Wiesen und Wälder zusammengesetzt werden sollten.

Oben bei mir war es immer noch warm und dabei so traulich, so heilig still, daß auch in mir alle Wünsche und alles Sehnen des Tages gestillt wurden. Das Zirpen von zahllosen Grillen störte die Stille nicht. Es schien vielmehr dazu zu gehören. Es klang fast wie das Geräusch in einer kleinen Gnomenwerkstatt, wo tausend kleine Werkzeuge in geschäftigem Gange sind. Da stimmt aber eine Sängerin mit volltönender Bruststimme ihr Abendlied an. Es ist eine Drossel. Sie sitzt wahrscheinlich auf ihrem Lieblingsplätzchen, auf der Spitze einer hohen Fichte drüben über dem Thale an der bewaldeten Leite. Klingt doch das Drossellied fast wie der halb unbewußte Gesang, der aus der reinen Brust der Jungfrau in kurzen Läufern und Trillern bei gern gethaner Arbeit emporquillt.

Allmälig wurde es aber ganz still. Oben am Himmel und unten in dem bereits in Dunkel gehüllten Städtchen wurden die funkelnden Lichtlein angezündet und aus dem Spalt der Thalschlucht am östlichen Ende tauchte der Mond hervor und beleuchtete mit seinem weißen Lichte die Kuppen und Säume der Berge. Auch der Abendwind schien heimgehen zu wollen. Er fuhr, als wolle er seinen Gespielen, den Kronen der Bäume, gute Nacht sagen, noch einmal über die Höhen und strich durch die alte knorrige Kiefer am Rande des Abhanges, wo ich stand, und überschüttete mich neckend mit ihren vertrockneten Nadeln. – Und nun umgab mich die heilige Nuhe der Nacht.

Ich wendete mich zum Heimwege. Da lag der fruchtbeladene Rücken der Höhe, an deren Kante ich gestanden hatte, in weiter Ausdehnung vor mir. Auf dem Kornfelde neigten die schwankenden Halme, vom scheidenden Hauche des Abendwindes leise und unhörbar durchweht, einander bald links, bald rechts die Köpfchen zu, als plauderten und zischelten sie zusammen; und – in der That – täuscht mich mein Ohr? – Welches Getön? Ist mir’s doch, als höre ich, aber ganz leise und fein, eine tausendstimmige Musik aus weiter Ferne, und doch kommt sie deutlich aus meiner Nähe! Immer lauter nicht, aber immer deutlicher höre ich, was mein Ohr noch nie gehört hatte. – Es klang wie das Tönen reiner heller Glöckcken und dennoch verstand ich Worte. – Ich wußte nicht, wie mir geschah. Die ganze Pflanzenwelt um mich her redete. Warum sollte sie das nicht? Aber daß ich Menschenkind ihre Sprache höre, verstehe, das machte mich athemlos vor Staunen.

„Wundre Dich nicht! Du bist ja unser Freund. Du kennst und liebst uns, und darum haben wir vor Dir auch kein Geheimniß. Bleib ein Weilchen bei uns. Wir haben heute einen Festtag.“

Diese offenbar an mich gerichteten Worte kamen aus einer Glockenblume her, die mir dabei traulich zunickte. Ich besann mich, daß heute der Johannistag war, unser schönster deutscher Blüthentag. War ich ein Sonntagskind, War’s weil ich ein sogenannter Naturforscher bin? Ich lehnte mich an eine Birke, welche einsam auf einem Feldraine stand, und beschloß zu bleiben. Das Mondlicht ließ mich deutlich genug die vielerlei Blumen um mich her unterscheiden.

„Nun, was treiben wir denn heute?" tönte es aus dem bunten Feldblumenteppich zu meinen Füßen; „wollen wir wieder einmal mit den Insekten Kurzweil treiben?"

„Ich bin dabei!" sagte lachend eine blaue Feldscabiose; „an mir hängt so ein schwerer Plumpsack, ein schlafender Schmetterling; ich kann ihn kaum noch tragen; er zieht mir mein Köpfchen ganz nieder. Wach auf! Es ist Tag! Der hört nicht. Nun so schlaf zu! Ich will gnädig sein; denn wenn ich mich schüttelte, so purzeltest Du in den Nachtthau und das könnte Dein buntes Röckchen verderben."

„So ist’s Recht, Schwester," sagte darauf die Winde, die an einem Kornhalm emporrankte; „wenn ich meine Trichterblumen aufwickelte, so würden die drin schlafenden Glanzkäferchen aufwachen; die kühle Nachtluft könnte den armen Schelmen eine Erkältung zuziehen."

„Laßt uns doch unsern neulichen Wettstreit wieder aufnehmen, und laßt die armen Insekten schlafen. Sie haben sich den ganzen Tag herumgetummelt." Das sagte mit einer feinen, etwas scharfen Weiberstimme eine Klatschrose, die hinter mir im Roggen stand. Sie war schon stark verblüht, denn von ihren vier scharlachrothen Blättern hing nur noch eins, schon halb welk, an ihrem kahlen Mohnkopfe.

Ein tausendstimmiges „Ja! ja!" pflichtete dem Vorschlage bei. Aber nun ging’s eine Weile zu wie auf dem polnischen Reichstage. Eine überschrie die andere, daß ich kein Wort verstehen konnte.

„Kinder, das geht nicht!" hub die Alte wieder an. „Ihr müßt nicht alle auf einmal reden! Das schickt sich nicht. Eine nach der andern. Seht Ihr denn nicht, daß wir einen Gast haben, der obendrein unser vollberechtigter Schiedsrichter ist?"

Bei dieser Anspielung auf mich wurde ich nun erst recht neugierig. Was sollte es denn da für mich den Blumen gegenüber zu Schiedsrichtern geben? Ich sollte es aber gleich hören.

„Daß ich bei den Menschen am meisten in Gunst stehe," so tönte es einstimmig aus tausend Kehlen hinter mir aus dem Kornfelde, „daß ist doch wohl, wie ich Euch neulich schon bewiesen habe, sonnenklar. Um mich beten ja alle frommen Menschen jeden Tag. Also fangt darüber nicht erst einen Streit an."

„O lieb Schwesterlein, so schnell wirst Du mit uns nicht fertig!" wendete hier der Weizen ein; „Dich nennt der Mensch, aber mich und vieles Andere meint er. Mancher würde das Maul gewaltig ziehen, wenn sein Gebet um’s tägliche Brot einmal nur einen Tag oder nun vollends gar eine Woche lang buchstäblich in Erfüllung gehen sollte. Glaube mir, Kuchen ist ihnen viel lieber!" Die Stimme, die nun laut wurde, erregte mein Mitleid, denn sie klang offenbar hektisch. Sie tönte aus einem Kartoffelacker herüber.

„Hat der Mensch nicht bekanntlich die allergrößten Anstrengungen gemacht, um mich zu besitzen? obgleich der vergeßliche Undankbare nicht einmal mehr weiß, wo und wann wir uns in dem weiten Amerika zuerst kennen gelernt haben. Viele Millionen würden Hungers sterben, wenn ich nicht wäre; und auch kein Reicher kann mich bei seiner Mahlzeit missen, wobei ich mich mit diplomatischer Geschmeidigkeit in alle Formen seiner Laune füge."

„Arme kranke Schwester!" lautete es über mir aus den würzigen Blüthenzapfen der wilden Hopfenranken, welche an der Birke emporgeklettert waren, „ich würde Dir rathen, in Deine Heimath zurückzukehren; hier in Deutschland scheint’s auf die Dauer zu rauh für Dich. Zudem fängt der Mensch an, undankbar von Dir zu urtheilen, indem er, auf Einflüsterungen der Chemiker, Deinen Knollen Mangel an Nahrhaftigkeit vorwirft. Uebrigens ist Deine Krankheit, es thut mir Leid, es sagen zu müssen, vielleicht eine Strafe, die Dir unsere Mutter, die Erde, schickt, dafür, daß Du Dich hergegeben hast, aus Dir den elendesten Fusel bereiten zu lassen. Ich komme hier auf ein Kapitel, bei welchem auch Ihr, Roggen und Weizen, nicht sauber gewaschen seid. Deshalb schelten auch alle frommen Menschen auf Euch. Wahrlich, die Mäßigkeitsvereine der Menschen bringen Euch keine Ehre; Ihr zwei, Roggen und Weizen, nehmt Euch ein Exempel an der Gerste, die sich nicht so mißbrauchen läßt, sondern im Verein mit mir der durstenden Menschheit – und wenn wäre sie das nicht – den edeln Gerstensaft spendet. Ich neide ihr freilich manchmal diese einseitige und parteiische Benennung des Bieres. Doch sei es darum! Gerste und Hopfen bleiben darum doch gute Freunde. Und die Menschen sind wieder unsere Freunde. Haben wir nicht eine weltgeschichtliche Mission? Führen wir nicht den Vorsitz, wenn über die wichtigsten Fragen den den Menschenkinder, geredet wird? Ja noch mehr, hegen wir nicht das heilige Feuer – erschreckt nicht – der Revolution? Denn wer soll denn noch Revolution machen, wenn wir nicht dann und wann in Baiern ein Bierrevolutiönchen anzetteln?. Könnten denn die Menschen auf den Universitäten Gelehrte werden, wenn sie sich nicht als Studenten einen Gelehrten vertrinken konnten?"

Diese kernige Rede schien die Streitenden etwas verblüfft zu haben, denn es dauerte einige Minuten, ehe eine dumpfe Stimme, denn sie kam aus dem Erdboben herauf, Folgendes vorbrachte:

„Ohne Eure Verdienste um unser aller gemeinsamen Schützling,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_161.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2023)