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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Mit dem zweiten Schlage hatte er das Schloß an dem einen der Nachen zertrümmert; das Schiff war frei.

„Hinein, wer mir folgen will,“ rief der ebenso schnelle als muthige litthauische Bursch.

Er sprang in den Nachen. Der entschlossene Gefangenwärter war der erste, der ihm folgte. Hinter dem Gefangenwärter wollten die drei anderen Gefangenen hinein. Zwei von ihnen schob Mix Szillus zurück.

„Thoren,“ rief er. „Soll das ganze Schloß in diese Nußschale? Wenn wir jenen fangen, sind schon zu viele darin. Löset den andern Nachen ab, und darin folgt.“

In dem Nachen lagen zwei Ruder. Eins ergriff Mix Szillus, das zweite gab er dem andern Gefangenen, einem jungen Litthauer, wie er. Der Nachen setzte dem Flüchtling nach.

Die Memel ist bei Ragnit sehr breit und tief; etwa wie der Rhein bei Bonn oder Köln. Das Ufer ist dort nur auf der ragniter Seite bebaut. Auf der andern, rechten Seite des Stromes sieht man weit und breit nur ein einziges Haus. Es ist ein Bauernhaus, ziemlich weit vom Ufer entfernt, mitten in der Wiese, die sich dort von der Memel bis an die sogenannten schreitlauker Berge erstreckt. Diese Berge sind ziemlich hohe, mit dichter Waldung bedeckte Hügel, die sich, mit geringen Unterbrechungen durch Weiden und Ackerland bis an die russische Grenze hinziehen.

Bei der Verfolgung des Flüchtlings kam Alles darauf an, vor ihm das jenseitige Ufer zu erreichen. Erreichte er es früher, so war er gerettet. Die Bewohner des einsamen Bauernhauses gegen ihn aufzurufen, war bei der Entfernung des Hauses unmöglich. Außerdem war das andere Ufer unbewohnt. Der Flüchtling konnte, mit einem Vorsprunge, die schreitlauker Berge erreichen. In diesem war seine Spur nicht weiter zu verfolgen und die Grenze war ihm frei.

Das Ablösen des Nachens vom Ufer hatte nicht so schnell bewirkt werden können, daß nicht der Verfolgte einen bedeutenden Vorsprung gewonnen hätte. Der zweite Gefangene war zudem ein eben so ungeschickter Ruderer, wie freilich Mix Szillus ein sehr gewandter. Der Nachen kam daher nur langsam vorwärts.

Der zweite Nachen konnte, in weiter Entfernung, nur noch langsamer folgen. Die Entschlossenheit und Gewandtheit des Mix Szillus hatte bei seinem Lostrennen gefehlt. Er hatte noch nicht die Mitte des Stromes gewonnen, als der Nachen mit Mix Szillus und dem Gefangenwärter bis auf wenige Schritte den Flüchtling erreicht hatte. Aber dies war in einer Entfernung von etwa höchsten vierzig bis funfzig Schritte vom jenseitigen Ufer.

Friedrich Victor durchschnitt noch immer mit der ungeschwächten Kraft seiner nervigen Arme die Fluthen. Welch’ eine ungeheure Kraft mußte dieser Mensch besitzen, ungebrochen, unberührt von einer mehr als zweijährigen Haft, in engen, ungesunden Mauern, unter der Belastung mit Ketten, bei magerer Kost! Er hatte beinahe die ganze Breite des schnell fließenden Stromes zurückgelegt, und noch bemerkte man keine Spuren von Anstrengung an ihm. Sein Gesicht war nicht röther und nicht blässer geworden, seine Brust hob sich nicht schneller und nicht höher als sonst. Allerdings hatte der Nachen ihn beinahe erreicht, die zwei Ruderer in dem bequemen, leichten, auf den Wellen dahin fliegenden Fahrzeuge, ihn, der ohne alle Hülfe, ohne alle Unterstützung mit den Fluthen zu kämpfen hatte. Allein das Gesicht des Mix Szillus glühte von der großen Anstrengung, und von der Stirn seines Gefährten flossen dicke Schweißtropfen herunter.

Und dennoch schien Friedrich Victor bisher mit den Wellen und mit seinen Gegnern nur gespielt zu haben.

„Weiter ausgeholt, Bursch,“ rief Mix Szillus seinem Gefährten zu.

Er selbst schwang sein Ruder kräftiger, und der vereinte stärkere Schlag beider in die Wellen trieb den Nachen in einem Satze bis unmittelbar an den Schwimmenden.

„Jetzt haben wir ihn,“ jauchzte Mix Szillus. „Noch einmal ausgeholt.“

Friedrich Victor sah mit einem höhnischen Lächeln zu ihm hinauf. Weit holte auch er mit seinen starken und langen Armen aus; hoch bäumte er sich in der Fluth wie ein stolzes Roß, ein ungeheuerer Stoß des elastischen Körpers, und er war dem Schiffe wieder weiter voraus als vor jener Anstrengung seiner Verfolger. Zwei, drei dieser Stöße folgten mit gleicher Wirkung. Er schien seine beste Kraft bis zu diesem letzten Augenblicke aufgespart zu haben. Der Nachen blieb weiter und weiter zurück.

Mix Szillus fluchte und klagte seinen Gefährten an.

„Zum Teufel, Bursch, strenge Deine trägen Knochen an.“

„Thue Du selber mehr als Du kannst,“ erwiederte ihm der Bursch.

„Zankt Euch nicht,“ rief der Gefangenwärter dazwischen. „Rudert, voran, voran. Er ist uns ein Dutzend Schritte vorauf, und wir haben kaum noch dreißig Schriftte vom Ufer.“

So war es in der That, und Friedrich Victor verdoppelte seine Kräfte, während der zweite Gefangene in dem Nachen verwirrt und ungeschickter wurde, und das Schiff anfing, sich zu drehen, anstatt voranzugehen.

„Bursch, was machst Du?“ schrie Mix Szillus. „Ich schmeiße dich in’s Wasser, wenn Du nicht besser aufpassest. Du ruderst als wenn es ein Litthauer wäre, den wir fangen sollen, und es ist doch ein Hund von einem Deutschen, und der Herr Wachtmeister ist ein Litthauer.“

Der Gefangenwärter war ein ächter Litthauer aus dem Kreise Heidekrug.

Der Nachen kam nicht weiter.

Aber auch Friedrich Victor war auf einmal in dem schnellen Fluge seines Schwimmens gehemmt. Er war in eine heftige, wirbelnde Strömung gerathen, wie man sie in der Memel, besonders in der Nähe der Ufer, nicht selten findet. Der Strudel hielt ihn fest umfangen. Vergebens versuchten die kräftigen Arme sich hindurch zu arbeiten, ihn zu durchschneiden.

Mix Szillus bemerkte es schnell. Er jubelte von Neuem.

„Jetzt haben wir ihn. Er kann nicht durch. Voran, voran! Aber nicht zu ihm. Nicht in den Strudel! Mehr unterhalb. Dort ist die Strömung geringer.“

Er gab dem Schiffe eine kleine Schwenkung, um, etwa zehn Schritte unterhalb der Stelle, an welcher Friedrich Victor sich befand, die dort schwächere Strömung zu durchschneiden. Der Flüchtling schien verloren. Aber er verband mit seiner ungeheuern Kraft eben so viel Muth und Geistesgegenwart. Rasch gab er den Kampf mit der Strömung auf. Er ließ sich von ihr fortreißen, den Strom abwärts. Mit starken Stößen seiner Arme half er nach. So flog er auf den Nachen zu.

„Er ergiebt sich. Er sieht, daß er nicht weiter kann,“ rief triumphirend der Gefangenwärter.

Aber Mix Szillus war blaß geworden.

„Herr Wachtmeister,“ sagte er leise, „der Kerl hat etwas Böses im Sinne; wenn Gott uns nicht beisteht, so sind wir verloren.“

„Was kann er vorhaben, mein Bursch?“

Mix Szillus wurde dringend.

„Mensch, rudere, stoß, schlag das verrätherische Wasser,“ rief er seinem Gefährten zu. „Und Du, Herr Wachtmeister, nimm mein Ruder und hilf dem Burschen. Du bist ja nicht weit von der Memel zu Hause. Du wirst das Ruder führen können. Und nun haltet Euch Beide nach jener Seite des Nachens hin, stromabwärts. Aber paßt genau auf. Es gilt unser Leben.“

„Was ist, Bursch? Was hast Du vor?“

„Rudert nur, rudert nur. Haltet Euch fest nach jener Seite.“

„Zum Teufel, Bursch, was ist denn?“

„Was ist! Siehst Du das nicht! Der Schuft kann uns so nicht mehr entkommen. Er arbeitet sich zu uns hin, um unser Schiff umzuwerfen. Ich kenne das. Es ist ja nur eine Nußschale. Er ist stark. Es wird ihm gelingen. Auch uns hindert die Strömung. Wir können nicht fort. wir könnten ihm entgehen, wenn wir stromabwärts trieben, wie er; aber dann entginge er auch uns. Es ist nur ein Mittel.“

„Und welches, Bursch?“

„Paßt nur auf Euch und Eure Ruder, Ihr Beide. Mit jenem Burschen lasset mich machen.“

Er warf sich in der Mitte des Nachens auf die Knie, mit dem Gesichte stromaufwärts, nach der Seite hin, von welcher Friedrich Victor sich nahete. Er bückte sich tief, so daß der etwas hohe Rand des Nachens über seinen Körper hervorragte. Der Schwimmende konnte ihn nicht mehr sehen.

„Bursch, was hast Du vor?“ fragte der Gefangenwärter.

„Merkst Du es denn nicht, Herr?“ Hier in der Mitte des Nachens, hier oben am Rande muß er anfassen, wenn er uns umwerfen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_272.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)