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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Aus dem Thierleben.
I.
Das Todtenlied des Kanarienvogels.

Treten wir einmal aus unserm stolzen aristokratischen Kreise heraus, legen unsere Vorurtheile ein wenig beiseite, und mischen uns in die große kriechende, schwimmende, kletternde und im blauen Aether schwebende Gesellschaft unserer Mitkostgänger bei der guten Mutter Natur, sehen uns das bunte, wirbelnde und doch wieder harmonische Treiben des bei der Erschaffung blos mit Instinkt abgefertigten Völkleins an, so entdecken wir bald in diesem bewegten Leben einzelne Momente, die unsern Glauben an den von vielen Philosophen bewiesenen Satz: daß der Mensch allein Vernunft, das Thier nur Instinkt besäße, über den Haufen wirft. Woher kommt zum Beispiel die Empfänglichkeit des edeln Rosses für das Unheimliche, die dieses Thier so ganz mit dem Menschen gemein hat? Der Renner, der seinen Reiter über ein Schlachtfeld trägt, oder mit ihm des Nachts an einem Friedhofe vorbeitrabt, reißt seine Nüstern weit auf, die Augen quellen aus ihren Höhlen hervor und durch den ganzen riesig starken Körper geht ein Schauder, der von dem eisigen Frösteln, das im gleichen Moment den Leib des Reiters durchzuckt, sich nicht viel mehr zu unterscheiden scheint, als die Liebe Hansens zu seiner Dorfgrete von derjenigen des zarten Stadtjünglings zu seiner Amaranthe. Der Unterschied besteht einzig in der mindern oder größern Heftigkeit der Wirkung der innerlichen Empfindung nach Außen. Die gewaltigen Sehnen und Nerven des Rosses fibriren heftiger, als die feinern Saiten, welche den Geist und den Körper des höhern Wesens mit einander in Verbindung setzen.

Das Moralgesetz, welches sich der gebildete Mensch gegeben hat, hat seine Basis in der Menschenliebe: die schönste Idee der Menschheit ist diejenige der Brüderlichkeit und des gegenseitigen Wohlthuns. Der Socialismus in seinem edelsten und praktischen Sinne regelt und bestimmt sogar diese Richtung, und wandelt sie zur unabänderlichen, durch das weltliche Gesetz gebotenen Pflicht um, und so tief ist das Gefühl der Wahrheit derselben in’s Mark der Menschheit gedrungen, daß sie am Ende den Sieg über alle ihre Gegner behalten wird, so langsam loyal das gefürchtete Gespenst Socialismus einherzuschreiten genöthigt ist. Uebt aber der Mensch, das vernünftige Wesen, einzig diese schöne Idee aus? Keineswegs! – Der Hund des Klosters St. Bernhard wandert in den Tagen des Sturmes und Schneegestöbers unverdrossen auf den eisigen Pfaden und in den unwirthbaren Klüften des schauerlichen Gebirgs umher, um den verirrten oder unter der stürzenden Lawine vergrabenen Wanderer aufzusuchen, dem Erstarrten erwärmende Labung zu bringen und ihn den gastlichen Räumen des Stiftes zuzuführen. Nun, freilich, Alles das hat ihm der Mensch, das vernünftige Wesen, gelehrt. Die Idee ist nicht im Kopfe des Hundes geboren, aber die Ausführung wenigstens geschieht von seiner Seite mit einer Lust, mit so freudigem Eifer, daß eine gewisse Tiefe des Verständnisses seiner Handlung kaum wegzuleugnen ist.

Selbst die edleren Regungen, deren Sitz wir sonst im Menschenherzen allein zu suchen gewohnt sind, und welche gewiß nicht durch die prügelgewürzte Dressur hervor gerufen werden können, die Anhänglichkeit und Dankbarkeit für empfangene Wohlthaten, sind dem Thiere edlerer Gattung keineswegs so fremd, als wir es uns gemeinhin vorstellen. Wir können hierbei ganz vom Hunde, dem gebornen Freunde des Menschen absehen. Züge von seiner Treue, Anhänglichkeit und Liebe sind genug bekannt. Von den Pferden, die bei dem todten Herrn auf dem Schlachtfelde Tage lang stehen blieben und vor Trauer starben, wollen wir ebenfalls schweigen. Weniger bekannt dürfte dagegen sein, daß selbst die Kuh, dieses anscheinend so stumpfsinnige Hausthier, die gleiche rührende Anhänglichkeit an ihre Wohlthäter an den Tag legen kann. Und dennoch ist es so.

Ein Bekannter des Schreibers dieser Zeilen, ein großer Freund von Hausthieren, besaß eine Kuh, nur eine einzige, und diese wurde von ihm selbst mit außerordentlicher Sorgfalt gepflegt, und bei jeder Gelegenheit geliebkost. Umstände veranlaßten ihn indeß, das liebe Hausthier zu veräußern. Mit kläglichem Gebrülle, gleich als fasse sie genau die Umstände, verließ die Kuh den Stall und das Haus. Nach Verfluß von drei Tagen kam der neue Eigenthümer zum Verkäufer, erklärend: er wisse nicht, was mit seiner Kuh anfangen. Seit sie in ihrem neuen Aufenthalt angekommen sei, habe sie weder Futter noch Trank berührt, und – hier das Sonderbarste – Thränen geweint wie ein Mensch. Unaufhörlich rinnen große Zähren über ihre Backen nieder. Leider verweigerte es der Verkäufer, das treue Thier in diesem Zustande zu sehen, sonst hätte bei dieser Zusammenkunft manche interessante Beobachtung gemacht werden können.

Interessanter noch als das so eben Erzählte, dürfte dem Leser folgende Begebenheit erscheinen. Sie beweist, daß gewissen Thiergattungen, namentlich den eigentlichen Musikanten von Profession unter den Thieren – den Vögeln, selbst die Poesie des Schmerzes, die Klage im Liede möglich ist. Ich habe sie einmal vernommen, diese Klage, aus der Kehle eines goldgefiederten Sängers, und ich kann versichern, sie hat mein Herz mächtiger angeregt, als manches stöhnende Schmerzlied unserer menschlichen Poeten.

Ich bin immer ein großer Freund von Kanarienvögeln gewesen. Vor einigen Jahren starb mir ein außerordentlich schönes und zahmes Exemplar dieser muntern Gattung. Der Verlust ging mir nahe, ich ließ den kleinen Leichnam ausstopfen, was so gut gelang, daß dem Vögelchen nichts als die Bewegung fehlte, um für lebendig zu gelten. Lange Zeit stand er so auf meinem Secretär, mit den klugen schwarzen Aeuglein unverwandt auf den gleichen Punkt hinschauend.

Ein anderes Exemplar seiner Gattung nahm seine Stelle als Kammersänger bei mir ein, und war bald eben so zahm, wie sein Vorgänger, so daß man ihn wie ein Hühnchen locken konnte, um das Futter von der Hand weg zu picken.

Eines Morgens – er hatte während der Nacht in seinem Käfig vor dem Fenster gestanden – war der kleine Musikus verschwunden. Ich hatte vergessen, die Thüre seines Gefängnisses zu schließen, und der Flüchtling hatte nach Demokratenweise von seinem ewigen Rechte Gebrauch gemacht und war ohne Abschied davon gegangen. Ich ließ den leeren Käfig offen an seiner Stelle, hoffend, daß der Flüchtige vielleicht blos einen kleinen Ausflug beabsichtigt habe, und sich ein wenig in der Nachbarschaft umsehen wolle, um dann zurückzukehren.

Diese Hoffnung rechtfertigte sich den Tag über nicht. Hänschen blieb verschwunden, und mußte es vorgezogen haben, sein Nachtquartier anderwärts aufzuschlagen, denn auch der Abend brachte den Flüchtling nicht zurück. Ich mußte den Ausreißer verloren geben.

Am folgenden Morgen, als eben die ersten Strahlen der Junisonne in die breite Hauptstraße der schweizerischen Bundesstadt hineindrangen und auf den metallenen Knöpfen der Fenster Ballustres spielten, wurde ich durch den prächtigsten Gesang eines Kanarienvogels, der dicht vor meinem Fenster ertönte, geweckt. Hastig warf ich den Schlafrock über, um an’s Fenster zu eilen, vermeinend, mein Flüchtling sei wieder da. Eben fing das Vögelchen wieder mit einem lang gezogenen Tone an und dann immer höher und höher auf der Tonleiter steigend, mit einen jener kunstreichen, fabelhaften Triller zu endigen, deren wunderbare Kraft und Behendigkeit Erstaunen erwecken, über die kleine Kehle, die solche Janitschaarenmusik hervorzubringen im Stande ist. Das war nicht Hänschens Stimme, so ausgezeichnet sang mein kleiner Liebling nicht. Leise, den Athem zurückhaltend, zog ich den Vorhang zurück. – Im Käfig saß Niemand anders als mein Vogel, ein so unbefangenes Gesicht machend, als sei er sich gar keines Vergehens bewußt, und sich mit dem besten Appetite von der Welt die Hanfkörner in seinem Troge schmecken lassend. Die Bewegung in freier Luft hatte ihn so materiell gestimmt, daß er offenbar keine Zeit zu poetischen Ergüssen übrig zu haben schien. Oben auf seinem Käfig aber saß ein anderer Vogel gleicher Art, aber von seltener Farbenpracht und Schönheit – ein eigentlicher Specialvogel, wie die Tyroler sagen. War dieser der geheimnißvolle Sänger gewesen?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_279.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)