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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Seine üble Laune hatte sich vermehrt. Er schwor darauf, daß er das Gesicht des entflohenen Mörders in der Krugstube am Fenster gesehen habe. Der Kutscher hatte die Zeit benutzt, sich im Kruge einen Schnaps geben zu lassen. Das machte ihn noch verstimmter.

Nach einer Weile hörten wir im Wagen, wie vorn neben den Pferden eine fremde Stimme sprach: „Labbas Wakere!“ (guten Abend) sagte Jemand. Der Kutscher antwortete sein „Dieko“ (Dank) sehr kühl, ein Beweis, daß der Gruß ihm von keinem Litthauer geboten war.

Gleich darauf sagte die Stimme auch in gutem Deutsch: „Guten Abend, guten Abend, Herr Wachtmeister Matz.“

Der Executor dankte gar nicht. Er brummte nur einen Fluch zwischen den Lippen. Ich hatte die Stimme erkannt.

In Ostpreußen und Litthauen hat das Bureauwesen eine besondere, zahlreiche Klasse von Menschen unter dem Namen „Schreiber“ hervorgebracht. Sie gehen aus den untern Ständen hervor; auch in Litthauen nur aus den deutschen Familien. Als Knaben von vierzehn Jahren, nachdem sie nothwendig Schreiben und Rechnen gelernt haben und dann eingesegnet sind, kommen sie in die Lehre, in die „Schreiberei,“ wie zu einem Handwerke. Die Lehre dauert drei Jahre, wie auch gewöhnlich bei einem andern Handwerke. Sie wird bestanden in den Schreibstuben der Rechtsanwälte und der untern Behörden. Am Meisten bei jenen, und unter den letzteren bei den Gerichten. Jedoch hier nur im unmittelbaren Dienste bei den Actuarien, die gegen die Beziehung der gesetzlichen Schreibgebühren die gerichtlichen Schreibereien selbstständig zu besorgen haben. Nach beendigten Lehrjahren stellt der Lehrherr einen förmlichen Entlassungsbrief aus, und der Lehrling ist nun „gelernter Schreiber.“ Als solcher wandert er gleich einem Handwerksgesellen durch das Land, fechtend und seine Dienste anbietend, bei Rechtsanwälten, in den Kanzleien der Behörden, in den „Schreibereien“ der Landgüter und wo man ihrer sonst bedarf. Manche dieser Schreiber schlagen gut ein. Eine große Anzahl derselben aber wird zu nichtsnutzigem Gesindel und zu einer wahren Landplage. Bei halber Bildung überheben sich viele. Für die Wenigsten ist die knappe Besoldung, die sie bekommen, eine ausreichende. Höchstens erhalten sie für den Bogen sechs Pfennige. Davon können sie nicht leben, zumal wenn sie älter werden, oder Familie haben. Um mehr zu verdienen, drängen sie sich an die Parteien an, die mit dem Rechtsanwalte, dem Gerichte u. s. w. zu verhandeln haben. So werden sie untreu. Sie suchen die Leute in den Krügen und Schenken auf. So werden sie lüderlich, besonders Säufer. In solcher Weise ist der Grund zur Demoralisation des Standes gelegt, und das Verderben erbt sich fort. Wenn sie zuletzt von ihren Prinzipälen fortgejagt werden, gehen sie auf das Land, und werden nun doppelt eine Landplage als Winkelconsulenten, Schwindler, Diebsgenossen. In Litthauen sind diese Schreiber zugleich die Dolmetscher bei den Behörden und Rechtsanwälten. Aus den unteren Ständen hervorgehend, haben sie von frühester Kindheit an so gut Litthauisch wie Deutsch gesprochen.

Der Mensch, der dem Kutscher und Executor einen guten Abend bot, hatte als Schreiber und Dolmetscher bei der Kreisjustizcommission in Ragnit gearbeitet, bis ich ihn, vor ungefähr einem halben Jahre, sowohl wegen Trunksucht, als auch wegen Collisionen mit Angeschuldigten fortgejagt hatte. Ich hatte seitdem nichts von ihm gehört. Er gehörte zu den Schlechtesten seiner Klasse.

Der Fluch des Executors hatte ihn nicht von dem Versuche abgehalten, ein weiteres Gespräch anzuknüpfen.

„Sie fahren wohl nach Coadjuthen, Herr Wachtmeister?“ fragte er.

Er erhielt keine Antwort.

„Geht es von da weiter, Herr Wachtmeister?“

Er bekam wieder keine Antwort.

„Der Herr Kreisjustizrath sind in dem Wagen, und wenn ich nicht irre, habe ich auch die Frau Kreisjustizräthin darin gesehen?“

Der Executor antwortete ihm endlich:

„Möchten Sie ganz genaue Auskunft haben, Herr John?“

„Gewiß, lieber Herr Wachtmeister,“ erwiederte der Schreiber höhnisch.

„So gehen Sie nach Ragnit und fragen Sie dort auf der Kreisjustizcommission nach.“

„Danke für den güthigen Rath, Herr Wachtmeister. Aber ich kann es näher haben.“ Er wandte sich an den Kutscher: „Wann wirst Du zurückfahren?“ fragte er diesen auf Litthauisch.

„Höre,“ sagte der Executor zu dem Kutscher, „wenn Du dem Menschen mit einer Silbe antwortest, so haue ich Dich mit dem Kantschu hier durch, daß Dir für heute Abend Hören und Sehen vergehen wird.“

Der Schreiber wandte sich wieder an ihn. „Der Herr Wachtmeister sind ja gewaltig bös heute.“

Der Executor schwieg wieder.

„Ja, ja, der Herr Wachtmeister haben auch Ursache dazu; die ganze hochlöbliche Kreisjustizcommission.“

Der Executor wurde aufmerksam.

„Was wüßten Sie denn?“ fragte er mit anscheinender Wegwerfung.

„Freilich nicht mehr, als Sie, Herr Wachtmeister. Oder sollten Sie noch nicht wissen, daß heute Nacht zwei der gefährlichsten Verbrecher der Kreisjustizcommission entsprungen sind?“

„Ich habe davon gehört, Freundchen.“

„Aha, Sie sind wohl auf der Verfolgung begriffen? Ich sehe da den großen Executorsäbel an Ihrer Seite.“

„Mit dem kann ich auch andere Hundsvötter messen, wenn mein Kantschu nicht mehr ausreichen sollte.“

„Die beiden Entsprungenen werden Sie weder mit dem einen noch dem anderen messen.“

„Wer weiß! Die Polizei hat lange Arme in Preußen, und die Gensd’armen reiten schnell.“

„Die Todten reiten noch schneller, Herr Wachtmeister!“ Der Schreiber lachte laut über seinen Witz. „Aber über die Grenze reiten diese preußischen Todten nicht,“ setzte er hinzu.

„Die langen Arme aber,“ erwiederte der Executor, „können die Grenze sperren.“

„Pah, wenn es zu spät ist.“

„Noch ist es nicht zu spät, Freundchen, Freundchen. Die beiden Kerle sind noch im Lande.“

„Freuen Sie sich nicht darauf, Herr Wachtmeister. Es könnte wohl Ihr Unglück sein, wenn es wahr wäre.“

„Wie so, Freundchen?“

„Nun, ich meine nur so, Herr Wachtmeister. Aber haben Sie nie etwas von einem Ding gehört, das man die Urfehde nennt?“

„Urfehde? Nein, das kenne ich nicht.“

„Ich glaube es wohl. Es existirt nicht mehr. Aber es war früher eine vortreffliche Einrichtung für Kreisjustizcommissionen und andere Kriminalgerichte. Die Herren Beamten konnten dabei ruhig schlafen und auch – reisen. Doch lassen Sie sich das Weitere vom Herrn Kreisjustizrath erzählen, der hat ja studirt. Und nun gute Nacht, lieber Herr Wachtmeister, Kommen Sie glücklich über.“

Er wollte sich seitab in das Gebüsch entfernen. Mit einem Sprung war der Executor vom Bocke, und dem Schreiber in dem Nacken.

„Schurke,“ rief er, „Du hast Nachricht von den beiden Entsprungenen. Heraus damit, wo sind sie? War der Trinkat nicht in dem Kruge dort? Sprich die Wahrheit, Kerl, oder ich durchbläue Dich zu Brei.“

Der Schreiber konnte sich nicht rühren unter den kräftigen Händen des Executors. Aber hatte dieser gemeint, ihn einzuschüchtern, so hatte er sich vollständig geirrt. Der Mensch höhnte ihn nur noch mehr.

„Kehrt sich die Welt um?“ sagte er. „Die Diener der Gerechtigkeit fallen die ehrlichen Leute räuberisch auf offener Landstraße an!“

„Nicht die ehrlichen Leute, Bursch, aber die Spitzbuben.“

„Also doch Spitzbuben gegen Spitzbuben!“

„Matz,“ rief ich zum Wagen hinaus, „lassen Sie den Menschen los, und steigen Sie wieder auf.“

Er ließ augenblicklich von dem Schreiber ab, und begab sich wieder auf den Bock. Wir fuhren weiter.

„Wie konnten Sie sich so vergessen, Matz?“ warf ich ihm vor. „Ich kenne Sie heute nicht wieder.“

Er schämte sich. „Verzeihen Sie mir, Herr Kreisjustizrath. Ich kenne mich selbst heute nicht. Mich ärgert Alles. Es ist mir immer, als wenn uns ein Unglück auf dieser Reise bevorstände.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_282.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)