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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Amerikanische Briefe.

II. New-York. (Schluß.)
Der Verfall des Republikanismus in Amerika und dessen Neigung zum Absolutismus. – Der Wahlcensus für die Aristokratie des Gesindels. – Die „Rowdies, runners, suckers und strikers.“ – Bestrafte Verbrecher als Beamte. – Die Praxis bei den Wahlen. – Das Municipal-Reform-Comitee in New-York. – Das Verbrecher- und Regierungs-Viertel „five points“. – Wie die ankommenden Einwanderer empfangen, beraubt und geschunden werden. – Guter Rath für Auswanderer. – Ein aus dem Meere gezogener deutscher Bruder. – Aussichten.

Ehe ich von meinen Reisen durch Virginien, über den Sclavenmarkt von Richmond, durch Washington und den Congreß, dem Besuche bei Pierce im weißen Hause, durch Boston, Lowell, Rhode Island, Philadelphia und die Städte vieler Menschen, über das Wasser vieler Seen und Kanäle und die tausendmaligen, durch Wälder und über Sümpfe hingeworfenen eisernen Bahnen und von meinen Total-Eindrücken die Sahne abschöpfe, um sie dem Leser oder vielmehr der schönen Leserin in der Gartenlaube zum Thee oder Kaffee vorzusetzen, bleibt noch manche charakteristische Erscheinung New-Yorks übrig, die man nicht übergehen darf, wenn mein Zweck, ein getreues Bild von Amerika, so weit ich es kennen lernte, zu skizziren, erreicht werden soll.

Ich spreche nicht von untergeordneten Eigenthümlichkeiten, den in den Straßen umherlaufenden Eisenbahnen, den übervollen Omnibus mit Damen auf dem Schooße der Herren, dem Schmutze und Hausauswurfe auf den Trottoirs von Broadway, Pearl-, Nassau-, Fulton- und andern prächtigen Straßen trotz der 1600 beschäftigten Magistrats-Schmutzkarren, die 1853 über 250,000 Dollars kosteten, und sonstigen Skandalen magistratlicher Betrügerei und Nachlässigkeit. Diese Betrügereien und Nachlässigkeiten führen mich auf die Wurzel alles amerikanischen Republikanismus, die hervorgehoben und gezeigt werden muß, so unangenehm die Operation auch sein mag. Der amerikanische Republikanismus geht, wie der englische Parlamentarismus, durch seine eigene Ausartung zu Grunde. Das ist ein hartes Wort für freisinnige Herzen, aber was haben wir davon, wenn wir uns selbst betrügen und Hoffnungen der Freiheit für Thatsachen nehmen?

Die Sache ist, daß in Amerika gerade durch das allgemeine Wahlrecht dieses erste politische Recht freier Männer zu Grunde geht. Es ist in New-York unerträglich geworden. Der amerikanische Republikanismus ist eine verfaulte, hohle oder von Schmutz erfüllte Form ohne Republikaner, der sich ebenso wenig halten kann, als der Körper, aus dem das Leben gewichen, so daß zerfressende Luftarten und Würmer sich dessen bemächtigen, um seine Bestandtheile den ewigen Elementen zurückzugeben. Die Republikaner sind „alle geworden“, wie lange kann sich da noch der Republikanismus halten? Unter der Sclaverei des Mammon, des Geldmachens, der Baumwolle erstarb jede republikanische Tugend. Die Staats- und Stadtangelegenheiten verfielen, vermittelst des allgemeinen Wahlrechts, durch den Census der Fäuste, der Knüttel, der Bestechung und Verworfenheit aller Art auf organisirte Räuberbanden beschränkt, den gewissenlosesten, frechsten Wucherern und Schacherern, welche die letzten Reste republikanischen Sinnes austreiben und eine strenge, reinigende, absolutistische Regierung als Erlösung erscheinen lassen.

Dieser Proceß ist morgen noch nicht zu Ende, aber er hat sich unter republikanischen Formen bereits so weit ausgebildet, daß es nur irgend eines Ruckes und Stoßes bedarf, um den ganzen Plunder zusammenzustürzen. Der umgekehrte Census in England für die Abkömmlinge der normannischen Eroberer, die Lords, die Aristokratie, für den großen Grund- und Geldbesitz führt zu demselben Ergebnisse. England und Amerika arbeiten sich einem absolutistischen Attila in die Hände, der wahrscheinlich als „Gottesgeißel“ wirthschaften und die Staats- und Communal-Tempel von Wucherern und Wechslern, von dem altersschwachen, aristokratischen und dem plebejen, „scrophulösen Gesindel“ reinigen wird, um einer schöneren, freiern Entfaltung socialer und politischer Zustände Platz und Stelle zu verschaffen. Man braucht deshalb in unsern Andeutungen keine Schwarzsehkunst zu vermuthen. Uebrigens lasse ich Thatsachen reden.

Die Wahlberechtigten des allgemeinen Wahlrechts treten in New-York am Exclusivsten auf. Der Census zu Gunsten organisirter Banden, die unter dem Namen „Rowdies,[1] Runners, u. s. w.“ floriren, ist in New-York am Weitesten durchgeführt. Die Aristokratie des „Gesindels“ genießt hier ihre politischen Privilegien ganz unbestritten. Sie beherrscht die staatlichen und städtischen Wahlen, und da diese nicht hinlängliches Brot geben, macht sie auch in Industrie und Handel, zerschlägt gegen Pränumerando-Zahlung dem Concurrenten eines Geschäfts Fenster und Thüren, plündert jährlich 300,000 Einwanderer aus und schleppt sie concurrirenden Eisenbahn- und Dampfschiff-Compagnien in die Klauen. Außerdem treibt sie noch die Profession, Eigenthum und Leben in New-York überhaupt unsicher zu machen, und mit Allem, was die alten mittelalterlichen Ritter und Räuber keusch und verschämt in einsamen Wäldern und polizeilich nicht geschützten Kreuz- und Hohlwegen thaten. Magistrat und Polizei sind ja von ihnen gewählt und außerdem viel zu sehr mit ihrer eigenen Sicherheit, mit ihrer eigenen Amtskuhmelkerei beschäftigt, als daß sie diese zu „Stadtleuten,“ politischen Corporationen avancirten Rinaldo’s, Kohlhase’s, Käsebier’s und Guitzow’s in ihren noblen Passionen beeinträchtigen könnten.

Ich habe mir eine Stelle des „New-York Herald“ vom 28. November ausgeschnitten, welche in der Uebersetzung so lautet: „Die Unsicherheit des Lebens ist in New-York sprüchwörtlich geworden, und bei Vielen ist es schon keine Frage mehr, ob es nicht besser sei, unter der Tyrannei eines einzigen aristokratischen Despoten zu leben, statt unter den Knütteln ruchloser, schmutziger Haufen. Unsere Polizei ist die schlechteste in der Welt. Es ist notorisch, daß sie selten zu finden sind, wenn ein Verbrechen begangen worden ist, daß sie sich davon schleichen, wenn sie merken, daß sie als Arme der Gerechtigkeit zu Hülfe gerufen werden könnten. Wenn eine Bank oder ein reiches Individuum um Geld beraubt ward, finden sie es leicht wieder, weil sie dann auf gute Belohnung rechnen. Mit dem Glück und den Gliedern gewöhnlicher Bürger, von denen sie bezahlt werden, geben sie sich nicht ab. Ihr Gehalt ist neuerdings gesteigert worden, ihre Wachsamkeit nicht. Das ganze Uebel liegt in einer Nußschale, in dem verfluchten System der Politik, der Wahlen, welches seine Aeste und Zweige über alle anderen Lebenskreise ausdehnt, da die Rowdies viel Geld brauchen und von der Politik allein nicht leben können. Zerhacke die Wurzeln und der Giftbaum wird fallen!“

Das „Municipal-Reform-Comitee,“ bestehend aus den angesehensten Bewohnern New-Yorks, welches sich 1853 bildete, um die Fällung dieses Giftbaums zu versuchen oder den politischen Augiasstall zu reinigen, erließ unlängst einen Aufruf um Hülfe, worin folgende charakteristische Stellen vorkommen: „Die betrübendste Thatsache unter uns ist beinahe absolute Vernachlässigung ihrer politischen Pflichten von Seiten der Wähler von Ehre und Ehrlichkeit. Unsere politischen Beamten vom Höchsten bis zum Niedrigsten gehen aus Primärwahlen in Primärversammlungen [2] hervor, in denen verhältnißmäßig wenige gewissenlose Personen beider großen Parteien (der Whigs und Demokraten, d. h. der Centralisationsgesinnten der politischen Macht und der Separatverwaltungs-Interessenten für Staaten und Städte) durch Gewaltmittel oder Betrügereien die Candidatenernennungen und dann auch die definitiven Wahlen beherrschen. Die Niederträchtigkeit dieses Primärwahlsystems übersteigt allen Glauben. Bis vor einigen Jahren


  1. Rowdies nennt man die sehr zahlreichen Gauner, Tagediebe und Herumtreiber in den größern Städten, eine Klasse der Gesellschaft, die um so gefährlicher ist, als sie keineswegs aus dem niedern Volke, sondern aus der großen Masse derer hervorgeht, die irgend einen moralischen oder ökonomischen Schiffbruch erlitten haben.
  2. Primär-Versammlungen sind ursprünglich Partei-Versammlungen, um den Umfang der Stimmen der einzelnen Parteien vor den Wahlen kennen zu lernen und Zersplitterung bei den Wahlen zu verhindern. Sie wählen jetzt Comitees, die einen Candidaten für ein zu besetzendes Amt aussuchen, aufstellen, ernennen. Dieser Candidat ist der „reguläre“, alle andern sind „Stump-Candidaten“ (von dem Baum-Stumpfe, den sie in der Regel als ihre Rednerbühne wählen). Die so primär ernannten Candidaten werden gegen die „Stumps“ von gemietheten Rowdies, Strikers and Suckers und gegen die „Primären“ schwächerer Parteien, die nicht so viel Geld bieten konnten, ausschließlich beschützt und Anderswählende durch List und Gewalt überstimmt, von der Wahlurne weggeprügelt und sonst unschädlich gemacht. Strikers (Schläger) heißen die verwegensten, körperlich misshandelnden Rowdies, Suckers (Sauger), die durch List, Ueberredung und Vorspiegelung Geld erpressen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_342.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)