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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Sobald ein Schiff von den „Narrows" (der engen Meereszunge zwischen Staten Island und New-York) auftaucht, rüsten sich die „Runners" (die gemietheten Einfänger von Auswanderern) zu einem Ausfall auf ihre Beute. So wie das Schiff vor Staten Island Anker wirft, beginnt die Verauctionirung der Passagiere. Muß das Schiff Quarantaine halten, kommen die Runners mit kleinen Dampfbooten heran und nehmen die (vom Kapitain) gekauften Passagiere in Empfang, um sie nach New-York zu bringen. Dies thut der Runner großmüthig auf eigene Kosten, nachdem er dem Kapitain 100 bis 300 Dollars Kaufgeld bezahlt hat. Außerdem verkauft er an die Ankömmlinge, die gleich weiter wollen, Eisenbahn- oder Dampfschiff-Billets giltig auf Hunderte und Tausende von Meilen, unter dem Preise, d. h. Billets zweiter Klasse für eine Tour von zehn Meilen zu dem dreifachen Preise erster Klasse für Tausende von Meilen, so daß der Betrogene auf der nächsten Station erst das wahre Billet kaufen muß, wenn er dort von Beamteten-Billetverkäufern nicht wieder betrogen wird. Aber wenn er sich nicht betrügen lassen will? So bekommt er Hiebe von knochigen Fäusten, außerdem wird sein Gepäck einbehalten; zuweilen wird er auch von einem „Retter“ erlös’t, der ihn in ein Lagerhaus bringt, wo er für beide Freunde (denn Retter und sein Feind sind Compagnons) mit bezahlen muß.

„Die Billetverkaufsverschwornen hängen nicht selten mit den meisten deutschen und englischen Häfen zusammen und stehen in Rechnung mit einander, so daß es keine Rettung gegen Betrug giebt, wenn der Auswanderer nicht wie ein Fels im Meere steht und jeder angebotenen Gefälligkeit, jedem menschenfreundlichen guten Rathe ein stocktaubes Ohr entgegenhält, nöthigenfalls auch einen geladenen, sechsläufigen Revolver. Zwischen Löwen und Tigern kann er auf Menschenfreundlichkeit rechnen, unter den entzückten Brüdern und Landsleuten im Hafen von New-York nicht.

„Der einzige gute Rath, den man als wirklich praktisch geben kann, ist: Kaufe nur immer ein Billet für eine bestimmte Eisenbahn, eine Schiffstour derselben Compagnie. Ferner: Belade dich nicht mit Kisten und Kasten, die dich auf jedem Schritte hindern und dich unfehlbar aus einer Gaunerkralle in die andere werfen. Der alte Plunder in den Kisten und Kasten, den besonders Bauern und ärmere Leute mit sich herüberschleppen, muß zehn-, zwanzigfach theuerer bezahlt werden, als wenn du dir dieselben Sachen an Ort und Stelle neu kaufst. Welche Jammerscenen hab’ ich gesehen, blos weil die Leute mit großen Kisten und Kasten an’s Land stiegen. Da saßen sie auf ihrem alten Plunder, unfähig, nur einen Schritt zu gehen, auf den Kasten genagelt, von Raubvögeln umkreis’t zu Fuß und mit Droschken und erbötig, die kostbare Last für zehn Dollars zwölf Schritte weit zu schaffen oder sie umsonst in dieses oder jenes wohlfeile Gasthaus zu liefern, wo der Kasten sofort Pfand für die fabelhafteste Rechnung wird.

„Verkaufe Alles, was du hast, ehe du auswanderst und streiche das Geld ein. Mußt du durchaus ungewöhnlich viel Gepäck mitnehmen, stecke es nie in einen Kasten, sondern allemal nur in eine gute, starke, runde Tonne, welche du mit Spaß vor dir hinrollen kannst. Noch praktischer ist der Rath, gar nicht mehr über New-York einzuwandern, sondern einen weniger räubervollen, nördlicheren Hafen zu wählen, da die Eisenbahnverbindungen im Innern fast jede Gegend im Fluge erreichbar machen.

„Von New-York kommt man selten unmittelbar nach der Ankunft weiter. So fällt fast jeder in die Räuberhöhle eines Logirhauses, in welchem unlängst ein Engländer mit Mutter, Bruder und Tochter für zwei Tage 184 Dollars, d. h. viel über 200 Thaler bezahlen mußte! Wer durchaus übernachten muß, gehe in ein gutes, anständiges Hotel mit gedruckten, festen Preisen, wo Jeder seine Rechnung gleich vorher machen kann. Der glänzendste Palast in Broadway ist nicht so theuer, als die finstere Spelunke an den Quais unten.

„Aus dem Logirhause wird der Einwanderer auf eine Eisenbahn oder in ein „wohlfeileres“ Dampfboot geschwindelt. Sein Plunderkasten wird gewogen und behalten, bis er die haarsträubendste Summe Fracht dafür bezahlt hat. Der „Runner“ giebt ihm ein „wohlfeileres“ Billet für’s Deck nach Albany, welches doppelt so viel kostet, als eins für die niedrigste Kajüte. Die unglücklichen Opfer bringen, wie Schafe unter freiem Himmel zusammengehuddelt, eine schreckliche Nacht bis Albany zu, während die Kajüten-Passagiere in der weichsten Koje für ein Drittel des Preises ganz comfortable schlafen. In Albany werden sie wieder in ein Logirhaus maltraitirt und des Morgens nach dem „Westen“ in schmutzige Eisenbahnwaggons so dicht verpackt, daß regelmäßig mehrere unterwegs sterben und ohne Testament die Eisenbahn-Compagnie als lachende Erben hinterlassen. So gehen sie wie ein Stück Metall in der Hand des Drahtziehers, immer dünner werdend, ihre Linie entlang, nicht selten versponnen und ausgezogen bis auf den letzten Cent, ehe sie den Ort ihrer Bestimmung erreichen, blos reich an Erfahrung von der Schönheit republikanischer Tugend, Freiheit und Gesetzlichkeit.

„Ein Gesetz gegen die Runners und Rowdies giebt es nicht, weil sie über dem Gesetze stehen, über den Beamten – „ihrer Wahl.“ Der Runner ist ein Ungethüm (um eine Stelle der „New-York Tribune“ zu citiren), welches kein Feuer verbrennen, kein Strick hängen, kein Wasser ersäufen will, ein Kerl mit Eisenhämmern statt der Hände, mit Muskeln, zu stark für einen Bullen. Als solcher erntet er von seinem Arbeitgeber 30 bis 180 Dollars wöchentlich, außer den „Sporteln“, die er auf eigene Rechnung aus seinen Opfern heraushämmert.

Es sind jetzt „strenge Gesetze“ zu Gunsten der Einwanderer und gegen Anhäufung und Beschwindelung derselben in New-York unterwegs. Die Gesetze sind entweder ohnmächtig, oder es müssen Gewaltmaßregeln an die Stelle der jetzigen „freien“ Beamten und ihrer „Wähler“ treten. Also ein Schritt zu strenger „Regierung“ oder vorläufig Fortsetzung dieser Freiheit.

Ein anderer, häufiger Schwindel gegen Ankömmlinge besteht in Ausposaunung der vortheilhaftesten Beschäftigungen. So machten unlängst die braven deutschen Brüder Rosenstein und Thalheimer, Nr. 421 Broadway, in allen Zeitungen bekannt, daß 400 Arbeiter à 9 Schillige (3 Thaler) täglich gesucht würden. Die deutschen Brüder und Ireländer strömten hundertweise zu diesen Wohlthätern der Menschheit und bezahlten Jeder die verlangten 2 Dollars 50 Cents für Passagiergeld nach dem gelobten Lande. Sie wurden für 1 Dollar 60 Cents à Person mit der Eisenbahn nach Lockawaxen geschickt, wo täglich die drei Thaler zu verdienen sein sollten. Dort kehrte ihnen Jeder den Rücken. Niemand hatte etwas zu thun für die armseligen Leute. Einige machten eine Rückfahrt möglich, klagten beim Lordmayor, der die beiden deutschen Juden sofort verhaften ließ, jedoch ohne daß Jemand seitdem ein Wort von deren Verurtheilung vernahm.

Noch einen guten Rath. Kein Mittel ist absolut sicher gegen die privilegirten Gauner- und Räuberbanden, wohl aber eins, welches für die die ganze Welt gilt. Es besteht darin, ohne einen Pfennig in der neuen Welt auszusteigen, ohne Pfennig und krank dazu. In diesem Falle kommt der Unglückliche in die Hände von Menschen, der Emigrations-Commissionäre, deren Wohlthätigkeit und Aufopferung allgemein gerühmt wird, nur daß ihre Mittel jetzt nicht mehr ausreichen dem furchtbaren Elend gegenüber, das sich jetzt in New-York dichter und schrecklicher als je zusammendrängt, da die periodisch wiederkehrende große Geldkrisis jetzt ungeheuere Summen aus dem Verkehre zurückschreckt und Tausende von Arbeitern, die sonst im Lande nirgends hinreichen, brotlos macht. Tausende leben in New-York von Almosen, obgleich 1853 nicht weniger als 20,000, und im vorigen Jahre über 25,000 Auswanderer der alten Welt nach Europa zurückkehrten.

Wer durchaus auswandern muß, der bleibe lieber wo möglich noch ein Weilchen zu Hause, um sich’s noch einmal zu überlegen, und dann, wenn’s durchaus nicht länger auszuhalten sein sollte, gehe er nach dem deutschen Westen über Philadelphia, oder auch über Boston, für Canada über den besten, ehrlichsten, wohlfeilsten und am Schnellsten befördernden aller Häfen, Portland, wohin jetzt gute Dampfschiffe für Passagiere erster, zweiter und dritter Kajüte monatlich mehrmals von Liverpool abgehen.

So eben hat mich ein „deutscher Bruder“, frisch aus dem Meere gezogen, besucht. Er beschäftigte sich auf eine solide Weise mit Einfangen deutsche Kapitaine den „Runners“ vor der Nase weg, um sie zu anständigen „Brokers“ (Schiffmäklern) zu bringen. So ward er den Runners bald ein Dorn im Auge. Als er nun mit einem Runner zugleich auf ein ankerndes Schiff zusteuerte, schoß letzterer heran, sprang in sein Boot und warf ihn mit einem Stoße in’s Meer. Zufällig konnte er schwimmen, so daß er sich hielt, bis ihn ein Boot herauszog.

Von „unerlaubter“ Selbsthülfe, der Pöbeljustiz, dem Lynchen, der Furcht des Gesetzes und Rechtes vor dem Pöbel, der Furchtlosigkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_344.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2023)