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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

steckte meine Emilie, meine theuere Emilie, ihr altes Gesicht aus dem Fenster desselben, grinzte in einer schrecklichen Weise und schrie aus vollem Halse – und sie konnte schreien, das versichere ich meine Leser: „Beide auf derselben Fahrt, ich sehe.“

„Konnte ich meinen Sinnen trauen, war das meine Emilie, welche an mir vorbeiflog, über und über in weißem Atlas und feinen Spitzen, und das an der Seite seines spießbürgerlichen Civilisten? Wenn so, wer war das Wesen, das sich in diesem Augenblicke zitternd und seufzend in meinen Armen befand? Der Gedanke ist zweifelsohne ungeheuer schnell, jedoch hatte ich kaum Zeit, das zu denken, welches ich soeben niedergeschrieben habe, als unsere Kutsche ebenfalls vor der Kirchthüre anhielt und der Schlag niedergelassen wurde. In demselben Augenblicke sprang auch meine schöne Begleiterin, ihren Schleier und ein halbes Dutzend Mäntel von sich werfend, heraus und man denke sich meine Wuth und meine Scham, als ich nicht meine Emilie, sondern die alte Mumie Martha vor mir sah, welche mich auf das Schmählichste anlachte und mich herauszukommen einlud. Unser Wettjagen war nicht unbemerkt geblieben, und so hatten sich denn im Nu mehrere Straßenjungen um meinen Wagen versammelt, welche mich alle auf das Herzlichste verspotteten, und es hat wohl nie seit Erschaffung der Erde einen unglücklicheren Mann gegeben, als ich an diesem Tage war, wo ich allein nach der Stadt zurückkehrte und meine Emilie mit ihrem Gelde sich an einen prosaischen Civilisten verheirathete, der nicht einmal das Geschick hat, von dem ungeheuern Vermögen einen rechten Gebrauch zu machen.“

Dies ist der melancholische Liebesroman des armen Kapitains, und die schließliche Entwicklung ist allerdings tragisch genug für ihn, um ihn um seinen Verstand zu bringen.

(Schluß folgt.)




Kulturgeschichtliche Bilder.

Von Prof. Biedermann.
VII.
Die Untugend des Trunkes bei unseren Altvordern.

Wir haben uns in den bisherigen kulturgeschichtlichen Bildern[1] mit den materiellen Zuständen einer frühern Zeit im Vergleich zu der heutigen beschäftigt; wir wollen jetzt einmal die Aufmerksamkeit der Leser auf ein moralisches Charakterbild der Vergangenheit hinlenken. Es ist gewiß ebenso lehrreich, zu sehen, welche Veränderungen in Betreff der Sitte und Lebensweise unserer Nation vor sich gegangen sind, als die Verbesserung ihrer materiellen Zustände zu studiren.

Das Trinken war von jeher eine besondere Stärke unserer Landsleute. Von den alten Germanen wissen wir durch Tacitus, daß neben der Leidenschaft des Spieles die des Trunkes ihre müßige Zeit, wenn sie nicht auf Kriegs- oder Jagdabenteuern sich befanden, ausfüllte. Ihr Lieblingsgetränk war ein aus Gerste gebrauter und, wie sich derselbe Schriftsteller ausdrückt, nach Art des Weines gegohrener Trank, also jedenfalls etwas unserm heutigen Biere nicht ganz Unähnliches. Später lernten die Germanen durch ihren Verkehr mit den Römern den Wein kennen, erhielten solchen von ihnen im Umtausch für ihre Landesprodukte, und fingen mit der Zeit auch selber an, Weinbau zu treiben, so weit Boden und Klima dies gestatteten. Daß im Mittelalter stark gezecht wurde, ist bekannt. Der Humpen spielte ebensowohl bei dem Rittersmann und an den Höfen, wie bei dem Mönche und dem Domherrn eine große Rolle, und noch heute bezeugen die Namen mancher unserer edelsten Weine die Sorgfalt, mit welcher die geistlichen Herren diese köstliche Gottesgabe kultivirten, und den Werth, den sie darauf legten. Auch unser Luther verschmähte dieselbe keineswegs; man weiß ja, wie er die Liebe zum Wein, zu den Weibern und zum Gesang als einen Freibrief gegen den Vorwurf der Narrheit verkündete.

In jenen Zeiten war indeß das starke Trinken weder ein besonderer Vorzug noch eine eigenthümliche Schwäche unserer Nation. Die Engländer waren wegen ihres übermäßigen Genusses berauschender Getränke lange Zeit verrufener als die Deutschen, und im 30jährigen Kriege (wo in Deutschland wie auf einem großen Weltmarkt die Tugenden und die Laster beinahe aller Völker Europa’s sich zusammenfanden) wetteiferten Deutsche, Franzosen, Schweden, Italiener und Spanier im unmäßigen Trinken mit einander. Allein nach dieser Zeit trat bei jenen andern Völkern, besonders den Franzosen und Engländern eine merkliche Verfeinerung der Sitten in diesem Punkte ein, während die Deutschen noch ziemlich lange die angewöhnte Leidenschaft in unverminderter Stärke festhielten. Man kann sagen, daß erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, also seit wenig mehr als hundert Jahren, in den gebildeten Klassen Deutschlands so ziemlich überall das übermäßige Trinken aufhörte, guter Ton zu sein, und ein tüchtiger Rausch nicht mehr als ein nothwendiges Zubehör einer fröhlichen Gesellschaft und einer freigebigen Ausübung der Gastfreundschaft erschien. Unmittelbar nach dem 30jährigen Kriege, wo die Sitten überhaupt sehr verwildert waren, war die Völlerei des Trinkens durch alle Stände, von den höchsten bis zu den niedrigsten, und selber den geistlichen nicht ausgenommen, ganz allgemein verbreitet. Ein bekannter Satyriker der damaligen Zeit, Moscherosch, schmäht auf die Prediger, daß sie sonder Scheu mit ihren Beichtkindern um die Wette in den Schenken sich toll und voll zechten, und ein theologisches Gutachten aus den siebenziger Jahren des 17. Jahrhunderts klagt, die Leidenschaft des Trinkens gelte weder bei Geistlichen noch bei Weltlichen für eine Schande. Ja, ein pommerscher Geistlicher am Anfang des 18. Jahrhunderts sagte auf der Kanzel, das Saufen sei keine Sünde, so lange man nur nicht sp...

Die damalige Art der Geselligkeit trug viel dazu bei, diese Angewöhnung bei unserm Volke länger im Schwange zu erhalten, als anderwärts. Die Frauen waren im Durchschnitt noch wenig gebildet; die herrschende Sitte war den aus beiden Geschlechtern gemischten Gesellschaften nicht hold, und selber der in Deutschland trotz aller eingerissenen Verwilderung ziemlich lebendig gebliebene Sinn für ein abgeschlossenes Familienleben trug dazu bei, diese Isolirung der Männer und die daraus fließenden moralischen Folgen unverändert zu erhalten. In den Reichsstädten herrschte die Sitte, daß man Fremde nicht leicht in den Kreis der eigenen Familie einführte, vielmehr solche an öffentlichen Orten traktirte und dabei wo möglich durch einen Rausch „ehrte“. In manchen dieser Städte, besonders den Seestädten, war es herkömmlich, daß die Männer sich allabendlich beim Glase zusammenfanden, während den Frauen die Sitte nicht gestattete, an geselligen Versammlungen außer dem Hause Theil zu nehmen. Erst mit der wachsenden Bildung des weiblichen Geschlechtes und mit der Entwickelung einer zugleich freieren und feineren Geselligkeit trat in diesem Punkte eine Aenderung ein und in Folge dessen nahm auch das übermäßige Trinken der Männer ab, zumal immer mehr als geselliges Bindungsmittel an die Stelle der berauschenden Getränke, oder wenigstens neben diese, die in dieser Hinsicht unschädlichern, Kaffee, Thee, Chocolade etc. traten.

Doch ward in den ersten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts noch allerwärts in Deutschland tüchtig gezecht, auf dem Schlosse des Landedelmanns, wie in dem Hause des reichen Handelsherrn und in dem Zunfthause des Handwerkers, an den weltlichen, wie an den geistlichen Höfen, und an den letzteren am Allerstärksten. Ein solennes Diner in einem reichen Kaufmannshause zu Hamburg oder Bremen durfte nicht enden, ohne daß wenigstens die männlichen Gäste wo möglich alle mehr oder minder ihren Schwerpunkt verloren hatten, und die Gegenwart der Damen legte dabei so wenig einen Zwang auf, daß man sogar diesen selbst ein mäßiges Räuschchen nicht übel nahm. Vor uns liegt das Anzeigeblatt der Stadt Frankfurt aus dem vorigen Jahrhundert; darin finden wir mehrfache Anzeigen von verlorenen Degen und anderen Gegenständen des Anzugs, wobei die sehr unbefangen angegebenen Umstände des Verlustes nicht daran zweifeln lassen, daß die betreffenden Personen (die jedenfalls den bessern Ständen angehörten)


  1. Siehe Nr. 5 dieses und die Nrn. 32, 38, 42, 47, 52 des vorigen Jahrganges.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_372.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2023)