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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Anna Bornstedt – ich bewohne ein Stübchen in Nr. 12 der B.-Gasse.“

„Bornstedt?“ fragte er noch einmal, und sein Gesicht ward noch bleicher als es bisher gewesen war.

Aus Josephine’s Augen blitzte ein Freudenstrahl. Um die Befangenheit ihres Mannes zu enden, der bestürzt an das Fenster getreten war, wandte sie sich zu Anna:

„Ich weise Sie nicht ab, Mademoiselle! Ein solcher Handel erfordert indeß Ueberlegung – besuchen Sie mich morgen um diese Zeit wieder, und ich glaube Ihnen den Dienst leisten zu können, den Sie fordern.“

„Madame! Madame!“ rief außer sich das junge Mädchen. „Und Sie wollen den Preis zahlen?“

„Wenn es mir irgend möglich ist!“

„Lohne Ihnen Gott, daß ich nicht hoffnungslos von Ihnen scheide!“

„Bringen Sie mir Morgen Ihre Arbeit zurück –“

„Nein, behalten Sie das Kleid und prüfen Sie die Stickerei – vielleicht sind Sie geneigter, den Preis zu zahlen.“

Anna küßte hastig die Hand der Madame Lindsor und verließ das Zimmer.

Gleich darauf sah sie Philipp, der immer noch an dem Fenster stand, über die Straße eilen. Wie beflügelte die Hoffnung die Schritte der armen Anna! Ihr leichtes, armseliges Tuch flatterte im Winde, und ihre kleinen Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Als der junge Mann sich wandte, stand Josephine ihm zur Seite.

„Du nanntest früher den Namen Bornstedt, wenn ich nicht irre,“ flüsterte sie. „Demnach ist es nicht unwahrscheinlich, daß dieses Mädchen der Familie angehört, der wir ein Vermögen schulden. Ich entließ die Unglückliche, um die Verlegenheit abzukürzen, die ich in Deinen Zügen las. Philipp,“ – sie warf sich an seine Brust – „ich werde ganz glücklich sein, wenn mir auch nichts bleibt als Deine Liebe! Du kommst arm zu mir, aber Du bringst mir dennoch einen Schatz, den ich nicht genug würdigen kann!“

Philipp drückte die reizende Frau fest an sich und bedeckte ihren blühenden Mund mit Küssen. Die beiden Gatten feierten Augenblicke der höchsten Wonne.

„Madame F. wollte eine kleine Bosheit ausüben,“ sagte Josephine, „sie ahnt sicher nicht, daß sie mir einen guten Dienst erwiesen hat.“

„Ist Anna die Tochter des Mannes, den ich suche, so zahle ich ihr einen Preis, der sie für die mühsame Arbeit und für den erlittenen Kummer entschädigt! Du erlaubst mir, daß ich mir sofort Gewißheit verschaffe.“

Philipp entfernte sich. Josephine weidete sich noch einige Zeit an der kostbaren Stickerei, dann legte sie sorgfältig das Kleid zusammen und verschloß es.

„Ich werde doppelt stolz darauf sein,“ dachte sie, „wenn man mich in diesem Schmucke bewundert!“




III.

Madame Lindsor hatte ungeachtet ihres eingezogenen Lehens gewissen Kreisen Stoff zu Vermuthungen und Deutungen mancherlei Art gegeben. Ihre Besuche des Concertes und Theaters waren hinreichend gewesen, um die Damen neidisch und die Männer rebellisch zu machen, eine Erscheinung, die Leipzig mit allen Städten gemein hat. Die Soiréen des Banqiers, von denen Madame Lindsor dreien beigewohnt, hatten alle Varietäten der großen leipziger Familie vereinigt, mithin wurde die fremde Dame je nach der Anschauung dieser Gattungen beurtheilt.

„Wer ist denn eigentlich die Madame Lindsor?“

Diese Frage beantwortete um die Mitte des Monats Mai Jemand, der zum Geschlecht der Positiven gehört, durch folgendes Inventarium:

„Madame Lindsor ist eine erste Etage für sechshundert Thaler Miethzins, der halbjährlich nach Wechselrecht pränumerirt wird; solide Möbel, bürgerliche Küche, zwanzigtausend Thaler Revenüen, die ihr erlaubten, eine Equipage zu halten, wenn sie wollte. Ihr Mann ist ein englischer Kaufmann, der gegenwärtig eine große Reise macht. Solide Leute, gegen die sich nichts einwenden läßt.“

Hat der Positive, ein dicker, runder Mann mit kirschrothen Backen, der in der Regel einige Häuser mit Meßlokalitäten besitzt, diese Interpretation gesprochen, so bedeckt er die Oberlippe mit der Unterlippe, und bewegt das schwerfällige Haupt, als ob er die letzte Phrase dadurch bestärken wollte. Man weiß nun, er hat ein erschöpfendes Urtheil abgegeben.

Wendet man sich an einen fein gekleideten Mann, der schwarze Glacehandschuhe, glänzende Gummigaloschen und einen sorgfältig gepflegten Backenbart trägt, so erhält man die Antwort.

„Madame Lindsor ist noch nicht an unser Klima gewöhnt, sie leidet ein wenig an Tuberkeln; es hat jedoch nichts zu sagen!“

Dieser Mann ist ein Arzt. Nachdem er lächelnd diese Antwort gegeben, eilt er von dannen, und man ist geneigt zu glauben, er behandele die Dame. Bei nächster Gelegenheit läßt er zufällig die Ansicht laut werden: „Sie wird wohl einen Respirator tragen müssen!“

Wenden wir uns an den jungen Mann mit blondem Haare, einer feinen Brille und untadelhafter Toilette. Er sitzt gewöhnlich Nachmittags zwei Uhr im Café français und ißt Kuchen.

„Madame Lindsor, mein Bester? Eine himmlische Frau, ein göttliches Wesen! Sie hat die Dedication meines neuesten literaturhistorischen Romans angenommen, der in splendider Ausstattung bei Brockhaus erscheint. Famos, sage ich Ihnen, neue Typen, Velin! Charaktere, bis jetzt nicht dagewesen! Ich habe ihr neulich den Prolog vorgelesen – sie war entzückt. Ah, eine geistreiche Frau! Schade, daß Madame F. zugegen war.“

Dieser Mensch gehört zum Geschlechte der Schöngeister, einem der verbreitetsten in dem Mittelpunkte des Buchhandels. Sie sind nicht gefährlich, da die Eitelkeit ihre vorherrschende Schwäche ist. Nur die Buchhändler fürchten sie, wenn sie ein Manuscript aus der Tasche ziehen.

„Madame Lindsor!“ ruft ein Anderer, der mit drei bis vier Freunden Mittags durch die Promenaden geht, um die Damen zu mustern. „Ich weiß genau, daß sie schon dreißig Jahre alt ist, verblüht, falsche Zähne, schöne Augen, abgenutzter Sopran, viel Toilette, etwas Schminke und elegante Manieren – ziemlich verblüht, aber immer noch einer kleinen Liebschaft werth!“

Diese Antwort erhält man von einem höchst sauber gekleideten Manne, der zum Geschlechte der Frauenbesieger gehört. Er hat um elf Uhr stark gefrühstückt, und will durch einen Spaziergang die Verdauung befördern. In solchen Augenblicken sind die Frauenbesieger unerbittlich.

„Wer ist diese Madame Lindsor?“ fragt ein junger Kaufmann seine Gattin.

„Ich will nicht, daß Du die Soirée bei Madame F. wieder besuchst!“

Dies ist unstreitig die inhaltreichste Antwort. Sie läßt sich kommentiren: die Frau ist gefährlich, hat Geschmack und versteht sich zu kleiden. Sie flößt den Gattinnen Besorgniß ein.

Dort kommt ein nachlässig gekleideter Mann mit langen Haaren, von bleichem, gelehrtem Aussehen. Fragen wir ihn.

„Madame Lindsor? Mein Bester, wissen Sie denn nicht, daß diese Dame die ehemalige Geliebte des Lord Palmerston ist? Ah, man hat seine Correspondenten in London!“

Dieser Mann ist ein Doctor der Philosophie und gehört zur Classe der Widersprecher. Sie wittern alle Druckfehler in den neu erschienenen Büchern, berichtigen die Facta in allen Memoiren und wetten stets Hundert gegen Eins, daß sie Recht haben. Fast alle Widersprecher kritisiren in gelehrten Zeitschriften, haben eine zurücktretende Stirn und schreiben einen schlechten Styl. In der Politik gehören sie der Partei an, die die wenigsten Anhänger besitzt. Jetzt sind sie Russenfreunde, im Jahre 1849 schwärmten sie für Oesterreich.

Es verbreiteten sich so viel Meinungen über Madame Lindsor, daß wir sie nicht alle anführen können. Wir haben nur beweisen wollen, daß ein Mann, der die junge Dame kennen zu lernen sich bemühte, ohne ihr seinen Besuch zu machen, eben so gut hätte glauben können, sie sei verwittwet oder verheirathet, dumm oder geistreich, gut oder schlecht, reich oder arm, schön oder häßlich – mit einem Worte, es gab so viel Madame Lindsor, als Classen in der Gesellschaft und Sekten in dem Protestantismus. Dem guten Philipp kam Manches davon zu Ohren, aber er lächelte über das sonderbare Leipzig, vorzüglich nachdem man ihm die Geschichte von einem gewissen Makintosh erzählt hatte.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_418.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)