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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Deutschen ihre Macht und Menge in England am Wenigsten. Die älteren Ansiedler und viele Kaufleute denken immer noch, es sei ihre Pflicht, ihre Abkunft und Muttersprache zu verleugnen, und der „deutsche Klub“ im Westende hat eine aus Gevatter Schneider und Handschuhmacher bestehende Obrigkeit, welche das Wohl ihres vereinigten Deutschlands nur in einem schauderhaften Englisch berathet, und nur zuweilen verschämt und stotternd ohne alle Rücksicht auf Construction, auf Mir und Mich ihre Muttersprache mißhandelt. Es giebt eine Menge Deutsche, welche ihre Muttersprache ver-, und die Englische nicht gelernt haben, so daß sie sprechen, als wären sie vom lieben Gott eben direkt vom Turmbau zu Babel weggejagt worden.

Im Allgemeinen erkennt der Deutsche seine intellectuelle und praktische Ueberlegenheit über den Engländer, die er beweist und bewährt. Früher schämte er sich politisch, ein Deutscher zu sein. Nun das hat den jetzigen politischen Leistungen Englands gegenüber auch aufgehört. Sind wir politische Nullen, schmeicheln wir uns auch der Unschuld, die in jeder Null sich rein und rund darstellt, während die politisch freien Engländer sich von Politik und Polizei lauter negative Decimalbrüche treten lassen. Früher schämte sich der Deutsche auch social, ein Deutscher zu sein. Wenn der Engländer einen Ausländer, besonders einen Deutschen beschreiben wollte, schilderte er immer zuerst schmutzige Wäsche. Aber wir wissen und die Engländer sehen’s auch schon, daß in keinem Lande der Erde sich so viel schmutziges, gemißhandeltes, ausgebeutetes, zerlumptes Volk herumtreibt als in England, daß unter der reinsten Wäsche, unter dem dicksten Gold, unter der brillantesten Herrlichkeit sich schmutziger Humbug und betrügerische Heuchelei blähen und brüsten. Außerdem haben sich die Deutschen in London mit schief getretenen Stiefeln, zugeknöpftem Rock ohne Knöpfe (aus Mangel an westlicher Civilisation), mit ungewaschenen Gesichtern und Hemdenkragen so ziemlich verkrümelt; sie sind verdorben und gestorben oder englische Arbeiter, Lehrer, Commis, patentirte Erfinder, Eigenthümer oder wenigstens Soldaten geworden, ohne welche nach der Erklärung des damaligen Ministeriums die westliche Civilisation sich hätte für bankerott erklären müssen.

Englische Arbeiter aus Deutschland! Das ist ein gewaltiges, freudiges Wort, obwohl mit trauriger Färbung für das Mutterland. Jahr aus, Jahr ein kommen sie herüber, weil ihnen der Wirkungskreis daheim zu eng ward, nicht selten mit nichts, als einer Erfindung in der Tasche, an der sie zu Hause halb verhungerten, um hier erst noch einmal halb zu verhungern, bis sich der Capitalist oder die Compagnie findet, ihm die Erfindung abzukaufen, sich patentiren zu lassen und Tausende von Pfund daraus zu schlagen, während der Erfinder, abgespeis’t mit einem Taschengelde, „unschuldig, flachshaarig und mit blauen Augen,“ ohne Namen, aber solid seinen Lebensweg weiter verfolgt und nicht selten wieder etwas erfindet. Der bloße Zufall hat mich mit vielen Dutzenden solcher deutschen Erfinder bekannt gemacht, die erst lange umher hungerten und nun tüchtige Mechaniker und Geschäftsleute geworden sind. Einige waren schon so klug, die Erfindung nicht aus der Hand zu geben, so daß ihnen die Engländer Haus und Herd halten und Geld geben, so viel sie haben wollen. Ein Erfinder mit Familie aus den höhern Ständen war so weit gekommen, daß er, nachdem Alles in’s Leihhaus gewandert und die Pfandzettel verkauft worden waren, das schöne Haar seiner Frau (auf deren Bitten) abschnitt und verkaufte, um einen seit drei Tagen und drei Nächten eingedrungenen Besuch, den nackten, physischen Hunger, los zu werden. Jetzt lebt er in einem glänzenden Hause als Chef eines großen Geschäfts, durch welches seine Erfindung mit großem englischen Capitale ausgeführt wird.

Ein Anderer, der vorigen Sommer halb verhungert durch den James-Park wankte, fand dort ein vor Hunger fieberndes Mädchen und nahm sie mit nach Hause, in der Hoffnung, unterwegs etwas zu erfinden, womit Beider Hunger gestillt werden möchte. Wenn er auch nicht gleich etwas erfand, entdeckte er doch noch ein altes Faß, das er verkaufte, um es in Brot zu verwandeln. Jetzt umkreisen ihn Engländer, Amerikaner und Franzosen, um ihm ein halb Dutzend, zum Theil wichtigste Erfindungen abzuschwindeln. Aber er ist pfiffiger wie sie, und wußte sich sogar aus den Klauen eines Kapitalisten, dem er sich mit Leib und Seele hatte verschreiben müssen, wieder heraus zu winden, um Meister seiner Schöpfungen zu bleiben. Darüber später, wenn die betreffenden Erfindungen reif sind.

Von den deutschen Arbeitern und Gewerbtreibenden in London herrschen Mechaniker, Stubenmaler, Uhrmacher, Kunsttischler, Bäcker, Schneider, und in Whitechapel (Klein-Deutschland) die Zuckersieder ganz entschieden vor und werden durchweg den Engländern vorgezogen, welche in keiner Sphäre so solid, so geschickt, so genau und geschmackvoll arbeiten.

In Kunst- und Geschmacksachen theilen die Deutschen ihre Lorbeeren hauptsächlich mit den Franzosen, aber auf dem Gebiete physikalischer Instrumente, der Zimmerdecorationen, Meubles und Kleider haben unsere Landsleute bereits entschiedenes Uebergewicht. Man sagt wohl, die pariser Meubles seien geschmackvoller, vergißt aber dabei, daß in Paris fast alle deutschen Arbeiter auch sehr reich vertreten sind und in den Tischlereien auch der Zahl nach überwiegen.

Am Dichtesten vertheilen sich deutsche Arbeiter (besonders Tischler, Mechaniker und Schneider) in dem Theile des Westendes, der sich zwischen Regentsstreet und Tottenham Court Road in dichte Straßen zusammendrängt. Hier ist es wieder besonders Charlottestreet und deren nächste Nachbarschaft, wo jeden Sonnabend die meisten Exemplare der Gartenlaube gute Leser finden, da sie sich der deutschen Sprache nicht schämen und gebildeter und gesunder sind, als die englisch-deutschen Doppel-Karricaturen in der City und dem deutschen Philister-Klub. Sie haben ihren heitern, gesunden Verein für sich, in welchem jetzt Gottfried Kinkel (auf besondere Einladung des Vereins) wissenschaftliche Vorträge hält (Geographie, Geschichte u. s. w. im Zusammenhange mit andern Kulturelementen der Menschheit). Der Verein wurde früher von Communisten, Karl Marx, Willich[WS 1] u. s. w. gehumbugt und tyrannisirt, hat aber diese Herren alle nach einander ausgestoßen (Karl Marx hatte sich geweigert, von 86 Pfund Sterling – etwa 600 Thalern – Rechnung abzulegen). Das schmutzige Gezänk ist verschwunden; gebildete, stattlich gekleidete, frische Jünglinge und Männer kommen jetzt zusammen, um ihres deutschen Charakters, ihres deutschen Kulturtriebes froh zu werden und sich immer weiter zu bilden, da sie gebildet sind. Nur der englisirende Sclave des Geldmachens verachtet Vernunft und Wissenschaft, radebrecht Abends Englisch und spielt ächt deutsch Schafskopf dazu. Diese Arbeiter haben, statt sich englischer Bornirtheit zu fügen, nicht nur ganze Häuser und Werkstätten erobert, sondern auch einen englischen Bierwirth in der Charlottenstraße gezwungen, ihnen die Belletage einzuräumen und deutsche Blätter anzuschaffen.

Wollen sie sich einmal ganz besonders amüsiren, geschieht es durch ächt deutsche Excursionen, wie neulich nach dem Eppingwalde in fünf lustigen Vergnügungs-Omnibus (à 10 Thaler jeder) mit eigenen Tonnen Bier, deutschen Musikanten, deutschem Jugendhumor, lauter deutschen Tugenden und Schönheiten, mit Ausnahme der Damen. Diese wurden aus betrübendem Mangel des Originalartikels von Englands schönen Töchtern rekrutirt. Jeder hat natürlich etwas Liebes (wenn nicht schon eine Frau), denn die Wirths- und Meistertöchter sind ganz leidenschaftlich hinter den Deutschen her. Und wie waren sie im grünen, duftigen Walde unter Tanz und Musik und geselliger Abzapfung großer Bierfässer (Einige hatten sich ein Faß unter eine Brücke gekollert, im trinkend die deutsche Absonderung zu vertreten), beim Pferde- und Eselreiten und Herunterfallen, unter Lust, Gelächter und Jugendübermuth begeistert für deutsches Wesen mit den rothen, jugendlichen Backen, den blauen Augen und den blonden, braunen, brünetten und schwarzen Backen-, Schnurr- und Knebelbärten!

Freilich will und kann ich den Deutschen in London nicht idealisiren. So schimpft fast Jeder auf seine Mitbrüder wegen Unverträglichkeit, Wortklauberei, Streitsucht und giebt dadurch selbst in der Regel das schlagendste Beispiel seiner Behauptung. Niemand weiß, wie viel Deutsche es in London giebt, die Angaben schwanken zwischen 80 und 150, ja 200,000 Seelen. Aber nirgends haben sie einen entsprechenden Mittelpunkt. Die neununddreißig Vaterländer und Parteien finden sich hier alle in separirten Vereinen und Kliken wieder, ein Beweis, daß Politik und Polizei nicht eigentlich an der deutschen Uneinigkeit Schuld sind, sondern diese selbst; denn hier hindert und constabelt sie keine „hohe Behörde.“ Manche deutsche Gegend Londons ist wie eine kleine Stadt mit allem Klatsch, aller Topfgukerei und allem Scandal, wie man ihn nur in Deutschland unter dem Namen „Kleinstädterei“ produciren und kultiviren kann. Auch findet man unter den deutschen Kaufleuten und Shopkeepers viel schamlose Schwindler und corrumpirte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_450.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2023)