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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Schon recht, gnädiger Herr,“ sagte der Schäfer in der bedächtigen und zähen Manier seines Volksstammes. „Sie können mir Ihren Grund und Boden verbieten und ich muß gehen, aber sehen Sie, dort drüben läuft die Gränze, und wenn ich mich auf dem königlichen Revier hinsetze und dort bleibe, so lange ich will, so kann mir das Niemand verwehren. Guten Morgen, gnädiger Herr.“ Er rief seinen Lustig und ging mit langen Schritten in der bezeichneten Richtung davon.

Dießbach biß sich auf die Lippe, verschmähte aber, den Alten aufzuhalten. Stargau hatte also wirklich hier eine geheime Zuflucht gefunden, und die ehemalige Vertraute seiner Mutter war bei ihm, auch das junge Mädchen, von dem er zuerst durch Guido gehört! ein dunkles Räthsel für ihn, vor dessen Lösung er zitterte! Und außerdem noch mehr Menschen, wie es schien, eine ganze Kolonie von Geächteten! Fester umklammerte er den Schaft seines Doppelgewehrs, das er noch immer in der Hand trug, dann riß er sich gewaltsam aus dem unheimlichen Brüten los, in welchem ihn viel böse Geister heimsuchten, warf die Flinte über die Schulter und sah sich nach einem Ruheplatze um, wo er unbemerkt die Heimkehr der entwichenen Bewohner dieser verfehmten Stätte erwarten konnte. Er fand einen solchen hinter dem Felsenthore, nicht allzu weit entfernt. Wenn sie ihn vielleicht aus einem Verstecke belauscht hatten, so mußten sie, da er denselben Weg zurückging, den er gekommen war, an seine Heimkehr glauben – daß er wiederkommen werde, früh oder spät, daß für sie keine bleibende Stätte hier mehr sei, konnten sie freilich wissen, und so blieb nur anzunehmen, daß sie, eiligst aufgescheucht, keine Zeit gehabt, Anstalten für einen gänzlichen Abzug zu treffen und wahrscheinlich den heutigen Abend und die Nacht benutzen würden, um diesen zu bewirken. Versäumte Kuno also diese Gelegenheit, so war sie ihm unwiederbringlich verloren.

„Was aber, was dann?“ fragte er sich. „Wenn du ihn nun vor dir siehst, den Mörder deiner Ehre? Was gedenkst du zu thun?“ Er hatte sich diese Frage schon mehr als einmal gestellt, ihre Beantwortung aber immer auf das Unbestimmte verwiesen. Heut sah er sich zur Entscheidung gedrängt, er mußte vorher wissen, was er thun wollte, er durfte sich nicht von der Gewalt des Augenblicks treiben lassen - kalt und fest wollte er sein Richteramt, zu dem er sich aufgeworfen hatte, wahrnehmen.

Das war nun bedacht und zur vollen Gestaltung gereift. Eine gewisse Ruhe kehrte in ihm ein, nun er zum Entschlusse gekommen war, er glaubte sich und seiner Ehre, zugleich aber auch seinem Gewissen ein Genüge zu thun, wenn er ihn ausführte.

„Armer Guido!“ sprach er für sich. „Deinen lichten Jugendhimmel muß ich trüben – wie schmerzlich wird es Dir sein, Dein höchstes Ideal in Staub und Graus sinken zu sehen.“

Mit Guido’s Bilde stellte sich zugleich wieder das des unbekannten jungen Mädchens dar, er wußte, daß Nina, wie sich die Kammerfrau seiner Mutter bis in ihr Alter hatte nennen lassen, keine Tochter gehabt, und daß, wenn sie auch nach der Trennung von seiner Mutter noch einmal geheirathet haben sollte, ein Kind dieser Ehe noch nicht erwachsen sein konnte. Wer war also dies junge Mädchen, das sie für ihre Tochter ausgab und das Guido so ähnlich sah? – Stunde auf Stunde verging, Kuno saß geduldig in seinem Hinterhalt; er sah dem Zuge der Wolken nach und folgte dem Sonnenlichte auf den Bergen, zu seinen Füßen schlief der Hund, der zuweilen im Traume jagte. Länger wurden die Schatten, der Herbstwind strich empfindlich kalt durch das Felsenthor, die Sonne verschwand hinter der westlichen Kuppe, und braune Dämmerung wob allmälig ihre Schleier um die Gegend: im dunkeln Thale waltete bald die Nacht.

Jetzt konnte Kuno sicher sein, daß sein Nahen nicht mehr bemerkt werde, daß wohl auch die entwichenen Bewohner der Eremitage zurückgekehrt seien. Er trat in das Felsenthor und sein erster Blick sah unten im Hause ein hell erleuchtetes Fenster. Da lachte eine wilde Freude in ihm auf und er stieg hastig hernieder, so schnell es ihm sein lahmer Fuß irgend erlaubte.

„Entlarven will ich sie ja nur, sie zwingen, ihrer eignen Ehre Genugthnung zu thun!“ sprach er mit bitterer Lust, als er sich seinem Ziele so nahe sah. „Wenn ich ihn in meiner Gewalt habe, dann will ich ihn zu ihren Füßen schleppen und sie zur Anerkennung zwingen, dann aber soll sie es gut machen und mit ihm hinausgehen in die Ferne, wo Niemand uns kennt, die sie geschändet, und hat sie dem Elenden einst ihr Herz geschenkt, soll sie ihm jetzt –“

Da unterbrach ein harter Fall, den er that, seine Gedanken - in der wachsenden Dunkelheit war er mit seinem lahmen Fuße an einem scharfen Steine gestrauchelt, und ehe er sich halten konnte, zu Boden gefallen; er wollte sich aufraffen, sein Auge flog, wie das eines Adlers, der fürchtet, ihm könne die Beute entrinnen, thalwärts: er bemerkte, daß sich noch mehr Fenster in verschiedenen Erkern der Eremitage erleuchteten, dorthin hatte er die gerade Richtung, allerdings die gefährlichste, eingeschlagen. Rasch wollte er aufspringen, da gab das Geröll unter seinen Füßen nach, setzte sich mit wachsender Geschwindigkeit in Bewegung und riß ihn nun gar halsbrechenden Sturzes mit sich in die Tiefe. Laut heulend sprang ihm der Hund nach. All seine wilden Entwürfe waren auf einmal vernichtet.

Bewußtlos lag er unten auf einem Vorsprunge, mehre Klafter hoch über der Sohle des Thalgrundes. Wenige Schritt noch und keine Rettung wäre für ihn gewesen, denn unter dem Vorsprunge starrten zackige Klippen empor, die ihn unfehlbar zerschmettert haben würden. Aber das Geschiebe hatte sich schon vorher in seinem Falle gemäßigt, seine Kraft an einem waagrechten Rasenwalle, der sich um die Thalwand zog, gebrochen, und so blieb der verunglückte Mann, wenn auch schwer verletzt und besinnungslos, doch vor dem Aergsten bewahrt, liegen. Ein Glück, daß auch sein Gewehr sich im Falle nicht entladen und ihn tödtlich verwundet hatte.

In der Eremitage war allerdings wieder Leben erwacht. Ein wirthliches Feuer prasselte in der Küche und die alte Frau, welche wir schon kennen, war geschäftig, eine stark gewürzte Suppe zu kochen, während in der Ecke am Herde der Schäfer Klupsch saß, welcher also, wie er es dem Herrn von Dießbach rundweg erklärt, auf die Rückkehr der Bewohner gewartet hatte und mit mehr Glück, als dieser.

„Wenn wir den morgenden Tag noch für uns haben,“ sagte die Alte, „so ist Alles gewonnen. Heut sind wir sicher, aber morgen müssen wir in aller Frühe fort, denn er giebt so leicht nichts auf, was er sich in den Kopf gesetzt hat, ich kenne ihn schon von Klein auf, er war ein tückischer Junge.“

„Ja, auf Sie mag er einen besondern Zahn gehabt haben,“ versetzte der Schäfer, „da er Ihr doch seinen lahmen Fuß verdankt. Nun, nun, sehen Sie mich nicht so böse an, Sie hat mir’s ja selber gesagt.“

„Konnte man ihn halten? Er biß und schlug ja um sich, wie ein Satan - den konnte der Stärkste nicht auf dem Arme erhalten, es war ein Unglück, daß er gerade auf die Steine fiel und dann einen ungeschickten Chirurgus kriegte.“

„Jemand würde sich auch nicht gegrämt haben, wenn er nicht den Fuß, sondern den Hals gebrochen hätte!“ sagte der Schäfer.

„Meint Er meine gnädige Frau? Sie ist seine Stiefmutter! Wo soll die große Liebe herkommen, wenn der Junge sich immer bös gegen sie benommen hat!“ – Der Schäfer brummte etwas in den Bart.

„Lassen wir die alten Geschichten, ich weiß, Er hat immer etwas gegen meine Herrschaft –“

„Ja, weil sie meinen armen Herrn auf dem Gewissen hat – und wohl noch mehr!“ setzte er murrend hinzu.

Die Alte stieß mit dem Topfe, den sie eben vom Feuer nahm, so ungeschickt an, daß sie beinahe die ganze schon fertige Suppe verschüttet hätte. „Ich wollte Ihm rathen,“ sagte sie mit heiserer Stimme, „Sein Maul zu halten. Was meine Herrschaft mit Seinem Herrn gehabt, das geht Ihm nichts an – Er hat sich oft getraut, drein zu reden, wär’ ich Sein Herr gewesen, ich würde Ihm das gelegt haben. Jetzt ist nichts mehr zu ändern, also beruhige er sich, und wenn der Mond aufgegangen ist, mache Er, daß Er fort kommt und besorge Er den Wagen, wie Ihm aufgetragen ist.“

Der Ton einer hochmüthigen Herrendienerin, welchen die ehemalige Zofe der Frau von Dießbach angenommen hatte, verfing aber gar nicht bei dem alten Schäfer. „Sie spricht sehr einfältig,“ erwiederte er. „Wenn Sie Ihrer Herrschaft so getreulich abgeredet hätte, wie ich meinem armen Herrn, so brauchte er jetzt nicht bei Nacht und Nebel wie ein Dieb davon zu schleichen. Ihrer Frau zu Gefallen thue ich’s nicht, daß ich Helfershelfer bin, aber mein Herr hat mich einmal rufen lassen und ich will nicht, daß es noch mehr Unglück giebt: wir haben so schon genug!“ Er stand auf und sein Hund, der unter der Bank gelegen hatte, sprang gleich hervor, dieselbe beinah umwerfend.

„Erst doch einen Löffel warme Suppe?“ lud ihn die Alte ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_565.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)