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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Trog, aus dem die Dzimken mit langen Holzlöffeln oder auch mit bloßen Händen, vor vielen Zuschauern am Bollwerk, ihr Mahl verzehren, welches aus Wasser und Kleie, mit spärlichem Fette angemacht, vielleicht auch aus einer Erbsenzuthat zusammengesetzt ist, wobei die gewaltigsten Brotkloben, aus Mehl und Kleie gebacken, das Verschlagsamste sind. Dennoch ist es ein Mahl, dessen Gaumenkitzel sich auf den frohesten Gesichtern ausprägt. Dieses Kleienbrot dürfte das wirksamste Mittel sein, Zähne zu conserviren und in der herrlichsten Weiße zu erhalten, welches nur ausfindig gemacht werden könnte, und unsere Zahnärzte würden es auch sicher empfehlen, wenn sie auf den Geschmack und die Verdauungswerkzeuge unserer Damen und Herren noch zu rechnen hätten. Nichts übertrifft den natürlichen Alabasterperlenschmuck, den jeder Dzimke in seinem Munde trägt.

Betrachtet man dieses lustige Naturvölkchen des Wassers vom Ufer nun weiter, so scheint es anfangs, es sei auf seinen Witinnen wie eingenistet. Diese rührigen Gestalten, Männer und die jüngsten Bursche, wie sie auf ihren Floßholz-Baracken campiren, die ohnehin etwas vom Kindergeschmacke China’s bis auf Schnitzwerk und aufgesetzte Tempeldächelchen haben, vergegenwärtigen uns auf’s Lebhafteste jene chinesischen Familien auf den Kähnen und Flößen des Pekiang bei Kan-Beg, welche auf ihren Fahrzeugen geboren werden, heranwachsen, sich verheirathen, Kinder haben und sterben, ohne oft auch nur einmal an’s Land zu kommen. Tragen doch die Dzimken einen Rock, der just die Farbe hat, wie das Holz, wie die Bastmatte, auf der sie haften, nämlich braun; wie es ja auch Insekten giebt, welche dieselbe Farbe haben, wie das Blatt, auf dem sie wohnen. Unter dem Rocke trägt der Dzimke ein Hemde von einem grob-grauen Linnen, beide durch einen Gürtel zusammengehalten, weite Beinkleider desselben Stoffes; Kopf und Fuß geben ihm ein leichtes, fast südliches Aussehen; jenen schmückt ein leichter, weißer Strohhut, mit schwarzem Bande verziert, unter den Füßen hat er eine Art Sandalen. Freilich liebt er die Extreme, denn er zieht während der strengsten Hitze bisweilen auch einen dicken Schafpelz an, und vertauscht den leichten Strohhut mit einer Pelzmütze.

Wir sehen aber alsbald, daß es sich mit unsern Hinterwäldlern von Kowno ganz anders verhält, wie mit jenen chinesischen Schifferfamilien. Von Familienexistenz kann schon deshalb auf den Witinnen keine Rede sein, weil die Dzimken nie Weiber mit sich führen. Dann aber trachten sie auch schnellmöglichst darnach, an’s Ufer zu kommen, schon um ihre brennende Neugierde zu befriedigen. Eine Stadt wie Königsberg gesehen, durchwandert zu haben, ist in einem Dzimkenleben das Hauptereigniß. Wir sehen im Dzimken, und wäre er ein Greis, das Kind mit dem Wilden vereinigt. Ein lebhafter Tauschhandel beginnt, wie ihn die Seefahrer mit Wilden zu führen pflegen, nur daß hier die Eingeborenen die Civilisirten, die Schiffsbewohner die Unkultivirten sind. Alles Blanke, aller Tabuletkram, jedes Kinderspielzeug hat für den Dzimken unendlichen Reiz. Er bietet Matten, bunt geschnitzte Haselstöcke dar, und tauscht Sachen ein, deren Gebrauch er gar nicht kennt. Metallknöpfe, kleine Messer, Scheeren, Kinderspiegelchen, Schnarren machen ihn überglücklich, und er setzt Alles daran, sie in Besitz zu bekommen. Nun betreten diese seltsamen Naturmenschen schaarenweise das Ufer, und durchwandern die Straßen der Stadt. Es giebt barocke Scenen, die muntersten Kabinetsstücke der Wirklichkeit. Da kehrt ein alter Dzimke vom Jahrmarkt der Stadt Königsberg zurück. Er hat sich eine Kindervioline oder -Trompete oder gar eine Kindertrommel erkauft. Er hat sie umgehängt, schlägt sie mit den Stöcken, daß es eine Lust ist, und ein ganzer Halloh und Janhagel von Jungen und Kindern umringt ihn und folgt ihm unter dem ausgelassensten Lachen und Brüllen. Das genirt unsern Dzimken nicht. Er schlägt und wirbelt, so schlecht es auch ausfallen mag, sein Kalbsfell fort, und vollführt dabei ein gellendes Freudengeschrei und Jauchzen. Die Buben versperren ihm den Weg, lachen und schämen ihn aus, zupfen ihn von hinten, stoßen ihm an die Trommel, so daß er auf den Reifen oder gar vorbei schlägt, nie bringt es ihn außer Fassung, im Gegentheil, es macht ihm nun erst rechten Spaß, und er versucht sein Trommelstück immer wieder auf’s Neue.

Ein anderer dieser gutmüthigen und in ihrer Art sehr bildungsbeflissenen Naturmenschen, der auch in seinem grobbraunen Kittel, mit Strohhut, Hals und Brust entblößt, auf Sandalen ausging, kehrt wie verwandelt aus der Stadt zurück. Auch ihm folgt ein Straßenschwarm. Unser Dzimke ahnt nicht, wie er sich in geschmacklicher Hinsicht verschlechtert hat, und träumt von einem Fortschrittssiege ohne Gleichen. Er hat sich eine Tuchmütze erkauft, die ihm zu groß ist, und die ihm die Jungen noch tiefer in’s Gesicht rücken. Er trägt eine Halskravatte, die er aus Unkenntniß sich verkehrt angeschnallt hat, vor Allem aber entstellt ihn ein Leibrock oder sogenannter Frack aus blauem Tuche, dessen Aermeln der Mann längst entwachsen ist, dessen Taille nebst Knöpfen ihm hinten zwischen Nacken und Oberrücken sitzen, während die Schöße kaum decken, was sie doch decken sollen. Unglücklicher Weise aber erhielt der so urplötzlich Europäisirte im Trödel keine anständigen Beinkleider mehr, so daß die alten, graulinnenen Säcke um so mehr oberwärts sich bauschen, als der Hinterwäldler ein Paar Cavalleriestiefel sich erstand, die ihm auch wieder zu eng sind, was ihm allein dadurch vergütet wird, daß daran Sporen klirren. Wahrlich, unsere Modejournale könnten sich vorkommenden Falls aus solcher Geschmacksverbesserung, die keine ist, manches zur Warnung entnehmen. Oft gelingt sie aber auch an unserm Dzimken bis auf Ungestaltung des ganzen Menschen. Man erzählt von manchem jetzt wohlbemittelten, vielleicht sogar reichen Kaufherrn Königsbergs, er sei als der ärmste solcher Witinnenpolen nach unserer Stadt gekommen, habe mit dem Tauschhandel um Knöpfe und eine Kindertrompete angefangen, und mit dem Großhandel und einer Million aufgehört.

Neue Wunder und Poesieen der Wirklichkeit enthüllen sich, denen selbst die Langmuth und Schwerbeweglichkeit einer Dzimkenphantasie nicht gewachsen sind. Schon die Dampfschiffe machen ihr was zu schaffen, und geben ihr unlösbare Räthsel auf. Geräth aber ein solcher Natursohn der polnischen Hinterwälder nun gar auf unsern Eisenbahnhof, der sich in der Nähe des Hafens prächtig erhebt und ausbreitet, so kann der Beobachter wahrnehmen, wie fast sinnestörend und vernichtend die neuesten Errungenschaften der Civilisation auf einen Menschen wirken, der sich fast noch im Naturzustande befindet. Der Wilde ist schon außer sich, wenn er zum ersten Male einen Menschen zu Pferde erblickt. Er hält Beide für ein Wesen. Was wird aber hier dem Dzimken zugemuthet! Er soll es natürlich finden, oder sich doch erklären, daß eine Wagenreihe im Fluge ankommt, die nicht von Pferden gezogen wird. Zumal aber das Ungeheuer vorne mit seinen Feueraugen und glühenden Füßen unten, mit seinen keuchenden und ächzenden Athemzügen, seiner Rauchsäule, die wie ein dicker Wasserstrahl in die Höhe schießt, wirkt auf unsern Witinnenfahrer, als kämen der Teufel, seine Großmutter und der ganze Hofstaat der Hölle an, er windet und krümmt sich, als ginge die satanische Sippschaft schon über seinen Leib weg und kreuzigt sich, um sich in seinem Entsetzen zu helfen, wie er eben kann.

Auf seinem Floßschiffe selbst vergeht einem solchen Dzimken, wenn er nicht besondere Arbeiten zu verrichten hat, der Tag in aller Eintönigkeit eines noch dürftigen Seelenlebens, welches aber dennoch durch die Eindrücke des Hafens und der Stadt Königsberg schon um etwas bereichert worden ist. Abends indessen, nach dem Leckermahle seines Erbsengerichts, wenn die Tage noch lang sind, giebt es einen Tanz im Kreise der Seinigen, auf dem Bollwerk, vor vielen Zuschauern. Den Tanz und die Violine liebt der Dzimke leidenschaftlich. Gesang hört man fast nie aus seinem Munde. Er tanzt musterhaft gewandt nach der Natur und nach der ihm angeborenen Anstelligkeit seiner Nationalität, aber er entlockt den drei oder drittehalb Saiten seiner Geige dafür auch Laute, daß man der kratzenden Schärfe des Durtons entlaufen möchte, wogegen der Mollton uns mit Wehmuth erfüllt. Ist der Tanzlehrer des Dzimken auch der Naturinstinkt und die Schule, die er gehabt, die erste beste Dorfschenke seiner Heimath, so führt er seine Masurka, seine Varsovienne, seine Polka doch mit Anmuth und Selbsterfindung durch, die uns in Erstaunen setzen. Seine Sandale hat eine Elasticität, eine Sprungfederkraft, deren nicht leicht ein Damenschuh fähig ist; sein Körper eine Geschmeidigkeit, Anempfindung und Hingebung, die sogar einem Vestris[WS 1] und einer Donna Pepita nicht trefflicher gelingen dürften. Dabei beobachtet er die Grenze und Sitte des ihm Angestammten, seiner Urväter, bei jedem Schritte und Tritte. Ungeachtet die polnische Nation längst aufgehört, eine zu sein, und bereits in aller Herren Länder gedient hat, wird der Dzimke in seinem Tanz doch nie den Polen schuldig bleiben, und etwa in eine Kosacka überschweifen; zum besten Beweise, wie harmlos und naturfrisch, wie unangebrochen sich dieses

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Auguste Vestris, französischer Tänzer
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_589.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)