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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Ein viertes Merkmal ist dem Harmonieunkundigen schwer zu verdeutlichen. Vielleicht geht es auf folgende Weise. Denken Sie sich den Begriff „Mensch,“ so stellen Sie sich eine Mannigfaltigkeit von Gliedern vor, die, zusammengenommen, die menschliche Figur (eine Einheit) ausmachen.

Die Einheit „Mensch“ wollen wir uns in der Musik unter der Einheit „Tonleiter“ (Skala), die Mannigfaltigkeit der menschlichen Glieder durch die in der Skala liegenden, stufenweise auf einander folgenden Töne vorstellen.

Nun unterscheiden sich aber die Menschen in zwei Geschlechter, Mann und Weib. Ebenso haben wir in der Musik zwei Tongeschlechter, das harte und das weiche, oder die Dur-Skala und die Moll-Skala.

Sie unterscheiden sich durch einige andere Intervallenschritte von einander, wodurch der männliche und weibliche Charakter entsteht. Die männliche, harte Tonleiter ist unmittelbar aus der Natur der mitschwingenden Töne geschaffen worden, sie ist ursprünglich und consequent, der Adam; die weibliche, die Eva, ist aus der männlichen gebildet, hat in einem Intervall einen weichern, in einem andern Intervall einen herbern Zug, ist aufsteigend anders wie absteigend, also unconsequenter und launischer als die von Dur, aber nichts destoweniger höchst liebenswürdig.

Diese beiden Tonleitern können von jedem vorhandenen Tone ausgehend, nachgebildet werden; da wir nun zwölf verschiedene[WS 1] Töne haben, so giebt es zwölf harte und zwölf weiche Tonleitern, welche sich zwar in ihrem Wesen ganz gleich sind, aber sich durch höhere Lagen von einander unterscheiden, etwa wie die verschiedenen Racen der Menschen. Also. Mensch – Tonleiter. Geschlecht – Dur und Moll. Menschenracen – Tonarten. Die Melodie kann nur in einer Tonleiter liegen, dann ist sie eine leitereigen modulirende, oder sie kann mit anderen Tonleitern wechseln und wird dadurch eine ausweichend modulirende.

Jene hat die größte modulatorische Einheit, diese weniger, und kann durch immerwährendes Ausschweifen in andere Tonarten die Einheit in dieser Beziehung ganz verlieren. Es giebt viele der schönsten Melodien, die entweder ganz in einer Tonart bleiben oder nur sehr kurze Ausweichungen machen und gleich wieder in die vorige Tonart (Haupttonart) zurückgehen. Die Weber’sche Melodie liegt in C-dur, macht nur im zwölften Takt eine kleine Ausweichung nach F-dur – und wendet sich wieder nach C-dur zurück.

Nehmen wir nun zu den angegebenen Merkmalen das hinzu, was im ersten Briefe über Takt und Tempo gesagt worden, so ist die Weber’sche Melodie in ihrer einstimmigen Gestalt so zu erklären:

Sie ist eine Einheit, indem sie 1) eine Taktart, 2) ein Tempo, 3) eine Haupttonart, 4) am Ende einen vollständigen Abschluß, 5) rhythmisch gleiche und ähnliche, 6) tonisch gleiche und ähnliche Motive, Abschnitte, Sätze und Perioden hat.

Sie ist eine Mannigfaltigkeit, indem 1) in derselben Takt- und Tempoart verschiedene rhythmische und tonische Figuren, 2) in derselben Tonart verschiedene Akkordarten, und 3) verschiedene Ruhepunkte vorkommen. Durch alle diese Momente erhält sie eine einfache, wohlgeordnete faßliche und darum wohlgefällige Gestalt.

Nun merken Sie wohl auf! Die Momente, welche ich an der Weber’schen Melodie entwickelt habe, finden Sie im Allgemeinen in allen Melodien und musikalischen Gedanken unserer Musik wieder.

Namentlich giebt es keine einzige musikalische Periode, welche nicht wiederholte gleiche oder ähnliche rhythmische Motive in sich enthielte. Sollte einmal höchst ausnahmsweise eine Melodie von acht Takten, eine einfache Periode ganz ohne gleiche und ähnliche Motive erscheinen, so wird die ganze Periode wiederholt, oder die Wiederholungen erscheinen im Akkompagnement, d. h. in den begleitenden Stimmen, wie Ihnen später bewiesen werden soll. Kommen nun aber die genannten Merkmale in jeder Melodie vor, so ist die Verwendung und Mischung derselben einer unendlichen Mannigfaltigkeit fähig.

Es giebt Volkslieder, die mit einer achttaktigen einfachen oder sechzehntaktigen (Doppelperiode) zum Aussein, zum Schluß gebracht werden. Es giebt aber auch Musikstücke, Ouvertüren z. B., die zwei-, dreihundert Takte lang sind, zwei- dreihundert Motive haben, und also aus sehr vielen aneinander gehängten musikalischen Perioden oder einzelnen musikalischen Gedanken bestehen.

Wäre nun jede einfache Periode genau nur an die achttaktige, jede Doppelperiode genau nur an die sechzehntaktige Gestalt gebunden, so würde eine zu starre, mechanische und damit zu monotone Ordnung entstehen, die uns eben so unangenehm wie die Unordnung ist.

Um jene zu vermeiden, bildet man die Periode auf mehrfache Weise um, man zieht sie zusammen bis zu sechs Takten, und man dehnt sie aus bis zu 9, 10, 11, 12, 13 Takten etc. Dadurch, daß man nun Doppel-, wohl auch Tripelperioden von der einen oder andern gleichen Taktenzahl, z. B. von zweimal sechs, oder zweimal zehn Takten u. s. w., oder von verschiedener Taktenzahl, die eine z. B. von acht, die andere von zwölf Takten etwa bildet, kommt eine große Mannigfaltigkeit in den Perioden- und Gruppenbau der Tonstücke. Die musikalischen Gedanken werden in dieser Hinsicht ganz so wie die Gedanken der Rede behandelt. Die letztere hat auch verschiedene längere und kürzere Perioden, ja, zuweilen auch blos Sätze, wie die Musik auch.

Ebenso würden längere Musikstücke, welche durchaus nur in einer Tonart sich hielten, in dieser Hinsicht monoton erscheinen. Je größer daher das Tonstück ist, in desto mehr andere Tonarten wird zeitweise ausgewichen, um auch hier die Mannigfaltigkeit zu gewinnen, ohne die wir veränderungssüchtige Menschen uns nun einmal nicht zufrieden geben können.

Eine fernere Mannigfaltigkeit ist erreichbar durch die geringere oder größere Anzahl neuer oder schon dagewesener Motive und Motivglieder innerhalb der Periode. Es giebt Melodien, die nur aus einem einzigen Motivgliede, andere die nur aus einem Motive fortgesponnen sind, aber auch welche, die zwei, drei, vier, fünf, sechs – vielleicht wohl auch einmal sieben neue, von einander verschiedene Motive enthalten.

Und was im Kleinen, der Periode sich zeigt, zeigt sich im Großen in allen Tonstücken. Es giebt keines, dessen Perioden alle durchaus neue wären, deren einzelne Melodien sich alle durchaus von einander unterschieden. In jedem größern Tonstücke kommen Wiederholungen ganzer Perioden, oder doch von Sätzen, Abschnitten u. s. w. aus früheren Perioden vor. Diese gleichen und ähnlichen Wiederholungen nennt man „thematische Arbeit,“ und sie ist wieder das Mittel, dem ganzen Tonstücke eine Einheit und damit die Faßlichkeit zu geben. Man hat sie, und mit vollem Recht, die Logik der musikalischen Sprache genannt. Wie eine Rede einen Hauptsatz hat, welchen der Titel ankündigt, z. B.: „Von der Melodie oder dem musikalischen Gedanken,“ und alle einzelnen Sätze und Gedanken sich nun über diesen Hauptsatz auslassen, ihn von seinen verschiedenen Seiten betrachten und erklären, so hat jedes gute Musikstück ein Hauptthema, eine Hauptmelodie, welche gleichsam den Titel des Gefühls und Charakters angiebt, und den nun alle folgenden Perioden weiter entwickeln.

Hat die Melodie einfache Figuren und einfache Gliederung, so daß ihre Gestalt allen Hörern gleich verständlich und faßlich ist, so nennen wir sie eine populäre Melodie, dergleichen alle Volkslieder, viele Melodien in den Mozart’schen, Weber’schen etc. Opern, Haydn’schen und selbst Beethoven’schen Werken mehr oder weniger enthalten. Sie werden von allen Musikliebhabern als einzelne besonders ansprechende Stellen freundlich aufgenommen. Nun ziehen aber in den größern Tonstücken auch viele musikalische Gedanken an Ihnen vorüber, denen Sie den Namen Melodie nicht zugestehen mögen, weil sie Ihnen nicht so deutlich in ihrer Konstruktion erscheinen.

Mit dem Urtheil über solche Gedanken waren Sie bisher schnell fertig, indem Sie dieselben melodielos, im tolerantesten Falle, gelehrte Musik nannten. So wollen wir sie denn im Gegensatz zu der vorigen populären Melodie die Gelehrtenmelodie nennen, aber sie damit keineswegs als eine unbedingt verwerfliche bezeichnen. Denn die Faßlichkeit der Musik ist sehr relativ, und Manches oder Vieles, was dem Laien unfaßlich und unverständlich erscheint, ist es für den Kenner ganz und gar nicht. Das wird Ihnen jetzt schon anfangen, einzuleuchten.

Nachdem Sie, früher ein Stocklaie, nun wissen, daß gleiche und ähnliche kleine Theile (Motivglieder, Motive, Abschnitte u. s. w.) in jeder Melodie vorkommen und sie daher mit Ihrer Aufmerksamkeit beim Beginn jeder Melodie schon solche erwarten, wird Ihnen das Bemerken derselben, wo und wann sie erscheinen, gewiß

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verschieden
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_649.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2023)