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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Der Ballgast ging rasch durch die große Allee, in der noch einzelne Gruppen sich auf und ab bewegten. Das Schloß, der Sommersitz des Fürsten, lag vielleicht fünfhundert Schritte von der Allee entfernt. Ein großer Teich umgab das Schloß, das mehr einem Fort als einem Sommersitze glich. Fünf Minuten später flog Ludwig über die ziemlich lange Brücke und trat unter das gewölbte Thor, das sich unter einem mit Rasen dicht bewachsenen Walle befand. Bei dem Scheine einer Laterne ging ein Soldat mit Gewehr auf und ab. Der Schloßhof war ein großes Viereck, in dessen Mitte das Hauptgebäude lag. Die erste Etage desselben war glänzend erleuchtet. Aus der Balconthür, die man geöffnet hatte, um der frischen Abendluft Eingang zu gestatten, drang eine rauschende Tanzmusik – der Ball war also schon eröffnet. Ludwig erkannte, daß das Orchester einen Walzer spielte. Ueberrascht blieb er stehen.

„Der erste Walzer!“ dachte er. „Sie wird glauben, ich komme nicht oder vernachlässige ihr Engagement.“

In diesem Augenblicke rasselte ein Wagen in den Hof und hielt vor dem Perron des Schlosses an. Fünf bis sechs fürstliche Lakaien flogen die Treppe herab. Einer derselben öffnete den Schlag des Wagens. Ein bejahrter Herr in der preußischen Armeeuniform stieg aus.

„Deinen Arm, Henriette!“ sagte er, indem er sich zurückwandte.

Bei dem hellen Scheine der Laternen sah Ludwig eine junge Dame aussteigen. Sein Herz begann heftig zu klopfen und ein dumpfes Sausen durchbebte seinen Kopf. Wie fest gebannt blieb er stehen und starrte die aussteigende Dame an. Sie trug ein hellblaues seidenes Kleid mit weißen Spitzen. Der niedliche Fuß mit Atlasschuhen von weißer Farbe berührte kaum den Wagentritt. Ein leichter Florshawl lag über den glänzenden weißen Schultern. Das braune Haar war schlicht gescheitelt und mit einer künstlichen dunkelrothen Rose geschmückt.

„Henriette!“ flüsterte Ludwig entzückt vor sich hin. „Ich komme also nicht zu spät!“

Der Vater – der Herr in der Armeeuniform war Henriette’s Vater – ergriff den Arm seiner Tochter und stieg die mit Decken belegten Stufen des Perrons hinan. Die reizende Tänzerin streifte dicht an Ludwig vorüber. Eine Purpurröthe überflammte ihr Gesicht als sie den jungen Mann erblickte, sie grüßte nicht, aber dieses Erröthen und ein Blick sagten ihm mehr als ein Gruß.

„Du wartest bis nach Mitternacht hier!“ befahl der Baron seinem Diener in englischer Sprache.

Dann warf er ihm den Mantel zu und flog die Treppe hinan.

In dem Vorsaale empfing der Hofmarschall, ein Mann mit grauen Haaren, die Gäste. Ludwig war gezwungen, sich in Gegenwart Henriette’s ihm vorzustellen. Er nannte seinen Namen. Der alte Herr in der Uniform schien überrascht zu sein; doch grüßte er den jungen Baron mit einem Lächeln, das eine oberflächliche Bekanntschaft voraussetzen ließ. Der Hofmarschall führte die Gäste in den Saal, wo er sie der fürstlichen Familie vorstellte. Die Ceremonie war kurz, und es blieb ein Jeder bald sich selbst überlassen. Henriette schloß sich einem Kreise bekannter Damen an, und Ludwig suchte den Oberförster von Wildau auf, den er am Pharaotische kennen gelernt hatte.

Ludwig von Nienstedt erregte unter den Damen Aufsehen. Die junge Männerwelt war nur schlecht vertreten, und um den Mangel an flinken Tänzern einigermaßen auszugleichen, hatte der Fürst sein Offiziercorps zum Balle befohlen, das aus einem Major, einem Kapitain und drei Lieutenants bestand. Die Lieutenants allein waren Tänzer. Der Major, ein Mann mit rothen Haaren und Pockengruben, war zu klein und zu dick, und der Kapitain war zu lang und zu mager.

Der Ball war belebt, und ungeachtet der Anwesenheit des Hofes nicht steif. Die Ungezwungenheit des Badelebens machte sich auch hier bemerkbar.

Ludwig sah nach der Tanzordnung: eine Quadrille, eine Polka und ein Galopp gingen dem zweiten Walzer voran. Schon wählte er unter den Damen; um das Engagement Hennriette’s später nicht auffällig zu machen, wollte er die Quadrille mittanzen: da trat einer der Ballgäste, ein Mann von einigen vierzig Jahren, zu ihm:

„Herr Baron von Nienstedt?“

Ludwig verneigte sich.

„Sie erlauben mir eine Frage,“ fuhr der Gast fort.

„Fragen Sie?“

„Gehören Sie der Familie von Nienstedt an, deren Besitzthum im W.schen lag?“

„Ja.“

„Man glaubte die Familie ausgestorben –“

„Sie sehen, daß der einzige Sohn Ludwig aus Indien zurückgekehrt ist.“

„Ihre älteste Schwester, Herr Baron, war meine Braut. Der Tod verhinderte leider eine Verbindung, die zu den glücklichsten der Erde gehört haben würde.“

„Und wer giebt mir die Ehre –?“

„Friedrich von Heiligenstein, der Gutsnachbar Ihres Vaters. Ich erinnere mich, Sie als Knaben von zwölf Jahren gesehen zu haben –“

„Und ich erinnere mich, daß meine Schwester Adelheid mit großer Vorliebe von Ihnen sprach.“

„Adelheid!“ rief Friedrich von Heiligenstein mit einem Seufzer. „Sie war schön und gut, ein liebenswürdiges Wesen. Sie haben eine so große Aehnlichkeit mit Ihrer Schwester, Herr Baron, daß Ihr Anblick die Wunden wieder aufreißt, die in einem Zeitraume von sechzehn Iahren kaum verharrschen konnten. Reichen Sie mir die Hand – wir sind uns nicht fremd, obgleich wir uns kaum kennen!“

Ludwig reichte dem Gaste die Hand, und dabei sah er ihm in das freie, ehrliche Gesicht. In diesem Augenblicke traten die Paare zur Quadrille an. Henriette stand dem Baron gegenüber, Henriette in ihrer ganzen strahlenden Schönheit. Ihre Züge verriethen eine recht innige Freudigkeit, und Ludwig hatte allen Grund zu glauben, daß sein Erscheinen auf dem Balle das angebetete Wesen in diese Stimmung versetzt habe, und daß er sich ein günstiges Resultat von der beabsichtigten Unterredung mit ihr versprechen dürfe.

Die Musik begann, und die Tänzer führten die ersten Pas aus. Wie eine Sylphe schwebte die reizende Henriette dahin. Der arme Baron vergaß den Herrn von Heiligenstein, der neben ihm stand, und mit einer Art Rührung in seinen Zügen forschte. Wie ungezwungen und graziös war jede Bewegung der Tänzerin. Ihr zarter, elastischer Körper schwebte nur auf den Spitzen des kleinen, gewölbten Fußes. Das rosige Gesicht mit den geschweiften Brauen an der mattweißen Stirn, mit den langbewimperten seelenvollen Augen, der schön geschnittenen Nase, dem feinen, blühenden Munde und dem runden, koketten Kinne verklärte das anmuthigste Lächeln von der Welt. Jetzt reichte sie die zarte Hand, die ein weißer Handschuh bis an das Gelenk eng einschloß, dem Tänzer. Bei dieser Gelegenheit sah Ludwig den runden, vollen Arm, der von den feinen weißen Spitzen des halblangen Aermels wie von einer Wolke umgeben ward. So schwebte sie an ihm vorüber, und dabei sandte sie ihm ein Lächeln und einen Blick zu, die ihm tief in die Seele drangen. Herr von Heiligenstein rief den Entzückten zur Wirklichkeit zurück.

„Tanzen Sie, Herr Baron?“

„Jetzt nicht, mein Herr.“

„So bitte ich um die Freundlichkeit, mir ein Viertelstündchen der Unterredung zu schenken.“

„Sie sehen mich bereit; seit ich den heimathlichen Boden wieder betreten, habe ich noch keinen Freund meiner Familie gesprochen. Es ist erklärlich, wenn ich mich nach Nachrichten über die letzten Jahre derselben sehne.“

Arm in Arm traten die beiden Männer in eine Nische; hier ließen sie sich auf dem Sopha nieder, von wo aus sie den Saal und die Tanzenden übersehen konnten, ohne in ihrer Unterhaltung gestört oder belauscht zu werden.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_004.jpg&oldid=- (Version vom 20.2.2021)