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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Mannes. Der alte Herr von Nienstedt starb; seine Freunde und Standesgenossen bedauerten ihn, aber es war keinem eingefallen, ihm zu helfen. Nun fielen die Gläubiger über den Nachlaß her, man ließ verkaufen, was vorhanden war, und Adelheid flüchtete sich zu der Gräfin v. B., um nur ein Unterkommen zu finden, da ich leider außer Stande war, ihr ein solches zu bieten. Die Aufregungen der Krankenpflege und die gewaltigen Gemüthserschütterungen warfen sie auf das Krankenbett – sie starb am Nervenfieber. Die Behörden erließen Aufrufe an den letzten der Herren von Nienstedt; sie blieben eben so erfolglos, als unsere frühern Nachforschungen. Man hielt die Familie von Nienstedt für ausgestorben. Seit dieser Zeit sind Jahre verflossen, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich diesen Abend von dem Obersten von Eppstein höre, der junge Baron Ludwig von Nienstedt befinde sich unter den Gästen.“

„Ich danke Ihnen, mein Herr, für die warme Theilnahme an dem Geschicke meiner Familie!“ sagte Ludwig gerührt. „Und nicht wahr, ich darf hoffen, daß Sie die Freundschaft, die Sie für meinen Vater und meine Schwester gehegt, auf mich übertragen werden? O, ich verstehe die Frage, die in Ihren Blicken liegt: fürchten Sie nicht, daß Sie sich einem leichtsinnigen Abenteurer anschließen – ich kannte die bedrängte Lage meines Vaters, ich wußte, daß sein Gut überschuldet war, und aus diesem Grunde schloß ich mich einer Expedition nach Indien an, wozu mir damals gerade Gelegenheit geboten ward. Aus Furcht, daß man mich hindern würde, diesen kühnen, abenteuerlichen Schritt auszuführen, reiste ich heimlich, unter Zurücklassung eins Briefes, ab. Ich war damals achtzehn Jahre alt, hatte den Kopf voll großartiger Ideen und kühner Unternehmungen, die Vorurtheile, die ein armer Edelmann in dem lieben deutschen Vaterlande gegen sich hatte, verschmähete ich zu bekämpfen, und es kam mir lästig, selbst lächerlich vor, auf einen Stammbaum, und nur auf einen Stammbaum meine Carriere zu gründen. Alles ist Vorurtheil in der Welt, sagte ich mir; nur das Geld, nur der Mammon nicht. In glänzenden Karossen, in prachtvollen Schlössern hat der Geburtsadel einen Werth – ein armer Edelmann, der sich nur mit seinem Stammbaume bläht, dachte ich, ist eine lächerliche Erscheinung. Ich sah die furchtbaren Leiden meines Vaters, ja, mein Herr, ich kannte den Wurm, der ihm am Herzen nagte: es war der Stolz auf seinen Stammbaum, die Furcht, seinen Glanz nicht aufrecht erhalten zu können; und diese Furcht erstreckte sich bis über das Grab hinaus – er wußte, daß es seinem Sohne unmöglich sein würde, einen deutschen Baron zu repräsentiren. Ist der Plan meiner Verheirathung nicht der sprechendste Beweis? Mein Vater war gut, aber schwach; hätte er die Vorurtheile abgeschüttelt, hätte er das Leben genommen, wie es sich ihm bot, er würde vielleicht die Freude gehabt haben, seinen Sohn als Millionär wiederzusehen. Ja, mein Herr, ich bringe die Mittel mit, um das Geschlecht der Nienstedt im neuen Glanze erstehen zu lassen. Was der Stammbaum nicht vermocht, hat meine Kühnheit, nennen Sie es auch jugendliche Unbesonnenheit, hat mein rastloser Unternehmungsgeist und meine Verachtung der Vorurtheile vermocht. Ich war Kaufmann, Pflanzer und Sklavenbesitzer – jetzt will ich der Baron von Nienstedt sein, um einen Stammbaum aufrecht zu erhalten. Ich zahle die Schulden meines Vaters, und bei Ihnen, dem großmüthigsten seiner Gläubiger, will ich den Anfang machen. Nennen Sie mir die kleinen Summen, die Sie dem Verstorbenen im Drange der Noth zur Verfügung stellten, und ich zahle sie Ihnen doppelt und dreifach zurück.“

„Herr Baron!“

„Und außerdem seien Sie meines Dankes gewiß, er wird nie erlöschen!“

Ludwig ergriff mit Innigkeit die Hand des Edelmannes.

„Fast bereue ich,“ antwortete dieser bewegt, „in meiner Offenherzigkeit so weit gegangen zu sein, daß ich Ihnen eine Mittheilung machte, die mich eigennützig erscheinen lassen muß.“

„Ist es nicht meine Pflicht, die Schulden des Verstorbenen zu tilgen?“

„Herr Baron,“ sagte Heiligenstein in einem fast feierlichen Tone, „ich war mit Adelheid von Nienstedt verlobt, und ich glaube ein Recht zu haben, mich als ein Glied Ihrer Familie zu betrachten. Dieser Gedanke war bisher mein Trost, und ich hoffe, Sie werden ihn mir nicht rauben, indem Sie mich als einen Gläubiger Ihres Vaters betrachten. Darf ich dem Bruder meiner todten Braut ein Freund sein, so habe ich keinen Wunsch mehr auszusprechen!“

Gerührt reichten sich die beiden Männer die Hände.

Ludwig war keines Wortes fähig; aber die Blicke seiner großen, ehrlichen Augen verriethen, was in seinem Innern vorging.

Die Quadrille war zu Ende und die Tänzer zerstreuten sich. Die beiden neuen Freunde gingen Arm in Arm durch den Saal und traten, wie von einem und demselben Gedanken geleitet, auf den Balcon hinaus. Die Nacht war prachtvoll. Das Silberhorn des Mondes hing wie eine Sichel an der höchsten Spitze der Bergkette, die das Thal einschließt, in welchem das reizende Bad liegt. Ein mildes Licht schwebte über der duftenden Landschaft. Die köstlichste Sommernacht war herabgesunken. Schweigend standen die Freunde an dem hohen Eisengitter, das mit einem Blumenflore geschmückt war, dem tausend Wohlgerüche entströmten. Der gereiste Mann dachte mit Rührung der Vergangenheit – der jüngere zitterte bei dem Gedanken an das Glück der Zukunft.

„Mein lieber Freund,“ begann Ludwig nach einer langen Pause, „es bedarf zwar der Schilderung meiner Gefühle nicht, die sich meiner bemächtigten, als ich das Schloß Nienstedt betrat, und nur von fremden Gesichtern empfangen und neugierig angeblickt ward – denn Sie vermögen sich einen Begriff davon zu machen; aber es drängt mich, Ihnen Alles mitzutheilen.“

„Sie waren schon auf Nienstedt?“ fragte Heiligenstein überrascht.

„Ja. Es sind heute vier Wochen, als ich dort ankam. Um die Freude der Ueberraschung zu vergrößern, ließ ich mich dem Besitzer des Schlosses, wofür ich natürlich meinen Vater hielt, unter dem einfachen Namen Herr Ludwig anmelden. Ich trat in das Zimmer, und fand einen mir völlig fremden Mann.“

„Den Obersten von Eppstein; er hatte sich zur Zeit des Todes Ihres Vaters aus dem Dienste zurückgezogen und kaufte das Schloß Nienstedt, das damals feil geboten ward.“

„Der Oberst unterrichtete mich kurz und bündig von den obwaltenden Verhältnissen, und, sei es nun, daß mich meine Gemüthsstimmung zu gereizt machte, oder daß ich den Charakter des Mannes zu wenig kenne – kurz, er sprach in einem Tone, der mich bewog, mein Incognito zu bewahren, und ihn in dem Glauben zu lasse,; ich sei der Kaufmann Ludwig. Diesen Namen habe ich als Geschäftsmann geführt. Der Oberst entschuldigte sich, mich zu einem längern Verweilen nicht einladen zu können, da er nach zwei Stunden mit seiner Tochter in das Bad P. reisen wolle, wozu bereits alle Anstalten getroffen seien. Aber er lud mich zum Frühstück ein, bei dem ich ihn gestört hatte. Halb willenlos nahm ich die Einladung an. Ich trat mit ihm in den Saal, und da sah ich seine Tochter. O, mein Herr, Henriette ist das einzige weibliche Wesen, das auf mich einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat; sie besitzt für mich etwas unaussprechlich Heiliges und Geweihtes, sie ist eine Erscheinung, die ich wie eine göttliche Offenbarung verehre und bewundere. Ich verberge es nicht, daß die reizende Wirthin eine völlige Umwandlung in meinem ganzen Wesen hervorbrachte; die halbe Stunde, die wir beim Frühstücke saßen, genügte, um mich auf immer zu ihrem Sclaven zu machen. Ich war frei; das heißt, unabhängig von Zeit und Verhältnissen – ich wählte dasselbe Bad für den Sommer zu meinem Aufenthalte, in das der Oberst mit seiner Tochter reis’te.“

Ludwig schwieg, als ob er die Ansicht seines neuen Freundes über diese Eröffnung hören wollte, zu der ihn sein Herz gewaltsam gedrängt hatte.

Der wackere Heiligenstein ließ nicht lange darauf warten:

„Herr Baron,“ flüsterte er bewegt, „Ihre Neigung zu Henrietten ist eine wunderbare Fügung des Himmels. Die Familie Eppstein ist es, mit der Ihr seliger Vater jene Verbindung eingeleitet hatte, von der ich vorhin sprach. Henriette hat noch eine ältere Schwester, diese sollten Sie kennen lernen und sich dann mit ihr verheirathen. Ihr Verschwinden und der dadurch herbeigeführte Sturz Ihres Hauses vereitelte den Plan, und der Oberst, der an Ihrem Wiedererscheinen zweifelte, auch wohl seine Gesinnung nach dem Tode Ihres Vaters geändert hatte, billigte die Wahl, die Emilie getroffen: sie ist seit sieben Jahren schon die Gattin eines höhern Offiziers in der preußischen Armee.“

„Und Henriette?“ fragte Ludwig dringend und mit bebender Stimme.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_018.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)