Seite:Die Gartenlaube (1856) 049.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Die Luft-Eisenbahn in Woolwich.

„Es ist mit tausend Schrecken, was jetzt Alles erfunden wird,“ sagte einmal vor etwa zwanzig Jahren ein alter sächsischer Bauer zu mir. Und er hatte noch kein Sterbenswörtchen von Eisenbahn, Dampfschiff, elektrischen Telegraphen, Nähe- und Mähemaschinen vernommen, geschweige von der Kunst, welche den Sonnenstrahl zum Maler und Kupferstecher macht, von der wohlfeilen Kunst, Wasser mit Wasser zu kochen, mit Wasser unmittelbar zu heizen und zu beleuchten und aus Wasser unmittelbar die volle, ruhige Lichtgewalt der Sonne darzustellen; wie ich es neulich mit Staunen bei dem Schlesier Franz Puls in London leibhaftig sah[1] kein Sterbenswörtchen von all’ den elektrischen, galvanischen, galvanoplastischen, mikro- und teleskopischen, chemischen, physikalischen, mechanischen Erfindungen und Entdeckungen, welche alle 64 oder mehr Elemente und die ganze Menschheit in fieberhafter Aufregung erhalten, und stoßen und stacheln, immer noch mehr zu erfinden, Erfundenes zu verbessern und auszubeuten. Was würde der alte sächsische Bauer jetzt sagen? Wahrscheinlich gar nichts. Verstand und Zunge blieben ihm stockstill stehen vor zehntausend, vor hunderttausend Schrecken. Ging es mir, Mitgliede der westlichen Civilisation in der Welthauptstadt London, neulich doch beinahe selbst nicht besser, als ich zum ersten Male von der Eisenbahn durch die Luft hörte, welche in den Regierungs-Kriegs-Docks zu Woolwich ihr Wesen treiben sollte. Von Luftschlössern hatte ich wohl gehört und dergleichen früher auch selbst in beträchtlicher Anzahl und Pracht mit Stallung und Wagenremise für meine Privatequipage gebaut, aber dergleichen Jugend-Architectur ist von so ätherischem Material, daß sie in der Luft sehr gut hält, so lange sie von jugendlicher Phantasie und wangenrothen Hoffnungen gestützt und getragen wird.

Die Luft-Eisenbahn in Woolwich.

Aerial Railway,“ Lufteisenbahn, las ich. Eisenbahn von Luft oder durch die Luft? Fliegende Luftballons, Flugmaschinen, Ikarus’ von Eisen, beschwingte Ungeheuer paffend und schnarchend durch die Luft sausend, Eisenschienen durch die Luft gelegt ohne Unterlage - oder wie? Lufteisenbahn! Wie sieht das Ding aus? Die muß ich sehen, koste es, was es wolle.

Es kostete viel, denn die englische Regierung thut schrecklich geheim mit ihrer Diplomatie von Eisen und „flüssigem Feuer“ in Woolwich, aber ich fand doch endlich durch Fürsprache und eine Kette von Empfehlungen Einlaß in diese meilengroße, seltsame, entsetzliche Kriegswerkstatt mit Gebirgen und Straßen von Eisenbarren, runden, spitzigen, dreieckigen, konischen Kanonen- und Flintenkugeln, Heerden und Armeen von Bomben, Kanonen, Mörsern, Bestandtheilen von zweihundert neuen, eisernen Kanonenbooten, Dreihundertpfündern von Mörserbomben, die mit mehr als

hundert Pfund Pulver gefüllt über eine deutsche Meile weit fliegen sollen, ehe sie fallen und platzen, Bomben in Bomben, deren letztere mit einem neuen „flüssigen Feuer“ gefüllt eine ganze Festung schneller in Brand stecken sollen, ehe es mir gelingt, eine „kohlende" Cigarre rings herum anzuzünden, mit mehr als 9000 Arbeitern, Mechanikern, Schmieden, Chemikern u. s. w., die hier täglich mit vieltausend Pferdekraft des Dampfes und mechanischer Hebel (ohne die Soldaten und Offiziere) arbeiten. Es war ein schauerlich-nässender, nebeliger, kurzer Tag, und wir wurden außerdem mißtrauisch von Ort zu Ort gehetzt; als sollten wir nichts ordentlich ansehen und der tiefen Kriegsweisheit in die Karten gucken. Bei diesem Natur- und Diplomatennebel! Ungegründetes Mißtrauen, wenigstens was mich betrifft. Mir Kurzsichtigem sind alle Eindrücke wieder zu einem dicken Chaos von Nebel verschwommen, blos die Lufteisenbahn nicht, die man uns länger sehen und vor unsern Augen operiren ließ, wobei sie ein englischer Künstler sofort mit allem Zubehör der Umgebung zeichnete, worauf sie in Holz geschnitten ward, wie wir sie hier sehen. Ich glaube, das Ding wird uns nun mit einem Blicke klar. Nichts Einfacheres

  1. Darüber ein andermal genauer, wenn die Patentirungen u. s. w. in Ordnung sind und wir diesen vom Himmel gestohlenen Prometheusfunken durch Abbildung anschaulich machen können.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_049.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2017)