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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

seitdem ist er Schritt vor Schritt dem Verderben in die Arme gesunken. Von so einem Menschen ist alles zu fürchten – huh! Was für einen schrecklichen Bart er hatte! Versprich mir, heute Nacht bei mir zu bleiben.“

„Von Herzen gern, liebe Frau Pathe – aber die ganze Nacht – das kann ich nicht versprechen. Sie wissen, mein Kind hat die Masern und mein Mann kommt erst um Mitternacht aus dem Dienst. Bis dahin muß ich wenigstens abwechselnd bei dem Kinde sein. Nachher aber will ich ganz bei Ihnen bleiben.“

Als Minna bald darauf das Haus verließ, sah sie noch unter der Thüre stehend, welche die Alte hinter ihr schloß, wie ein Mensch an der andern Häuserreihe hinabging, in welchem sie beim Laternenlicht der Straße den Neffen ihrer Pathe erkannte. Sie sah ihm eine Weile nach, und da er zuweilen sich nach ihr umblickte, so beschloß sie, ihn weiter zu beobachten, ging bis an ein nahes Seitengäßchen und verbarg sich dort hinter der Ecke. Rudolf kehrte nun um, ging stracks auf das Haus seiner Tante zu, öffnete mit seinem Schlüssel geräuschlos die Thür und verschloß sie wieder hinter sich. Mit einem gellenden Angstschrei empfing ihn die überraschte Verwandte. Die Beobachterin auf der Straße eilte nun wieder an das Haus und stellte sich unter das Fenster, wo sie, da die Fensterflügel wegen des Sonnenscheins offen standen, durch die Jalousien einen großen Theil der zwischen Tante und Neffen, bald leiser, bald lauter geführten Verhandlung vernehmen konnte. Rudolf schickte keine Vorrede voraus. Er hielt der Alten kurz vor, wie sie ihrem Bruder auf dessen Todtenbette versprochen, seine Stelle an dem verwaisten Sohn zu vertreten, er nannte, ohne die Person namhaft zu machen, das gute Werk, um das es sich handelte, er bat so inständig, daß selbst die Horcherin an der Wand gerührt wurde und wünschte, die Alte möchte ihm die verlangte Kleinigkeit geben, „damit sie ihn nur los würde.“ Aber das hartherzige Weib war unbeweglich. Sie schalt Rudolf einen Undankbaren, einen Abtrünnigen, eine Frucht des Bösen. Da entbrannte er; er strafte ihren Geiz, er verwieß sie auf die heilige Schrift, die keine Todtsünde so hart züchtige wie diese, er riß ihr den Heuchelschein der Frömmigkeit vor den eigenen Augen ab und zeigte sie ihr in ihrer wahren Gestalt, als Betrügerin ihres eigenen Bruders; er erschütterte sie, daß sie stöhnte – aber er bewog sie nicht zur Erfüllung seines Verlangens. Sie schwor, daß sie es nicht erfüllen könne, daß sie kaum so viel Geld habe, um davon ein paar Tage nothdürftig zu leben. Entrüstet rief er, sie solle ihm einmal erlauben, in ihrem Pulte nachzusehen, er wolle Tausende in Staatspapieren zum Vorschein bringen, das baare Geld ungerechnet. Da schlug sie die Hände zusammen und heulte. Das trieb seinen Grimm auf’s Höchste, und ihre Arme krampfhaft erfassend, beschwor er den rächenden Schatten ihres todten Bruders herauf und bewirkte damit – daß sie in fieberhafter Angst aufkreischte: „Hülfe! Hülfe! Räuber! Mörder! – Er will mich ermorden –“

Da schlug die Horcherin an die Jalousie – Rudolf stutzte, der Ruf des elenden Weibes hatte ihn erschreckt – er fühlte, daß er zu weit gegangen, wenigstens für seine innere Würde – ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürzte er aus dem Zimmer, schloß die Hausthüre auf, zog aber mechanisch seinen Schlüssel ab, eilte an der Wartefrau vorüber und schnellen Schrittes die Straße hinauf. Die junge Frau ging in’s Haus zurück.

Rudolf zürnte auf sich selbst, ihm war als habe er seinen ganzen Adel – ergrimmt schleuderte er den Schlüssel, ohne dessen Besitz er hätte diese Scene nicht hätte herbeiführen, weit von sich. Er bemerkte nicht, daß hinter ihm ein Mensch herschlich, der den fallenden Schlüssel klirren hörte, suchte und fand; noch weniger, daß derselbe mit dem Funde nach dem Hause der Wittwe zurückkehrte und den Schlüssel geräuschlos probirte, dann aber in einiger Entfernung vom Hause sich aufstellte. Nicht lange stand er, da trat ein Polizeimann, derselbe, der die beiden Freund im Garten der Mutter Brummeisen belauscht hatte, aus dem erwähnten Gäßchen zu Jenem.

„Nun, wie steht´s? Hast Du etwas Verdächtiges bemerkt?“ fragte der Sergeant.

„Ja, Vater – vor einer Weile, wie ich eben erst meinen Posten unter dem Thorweg drüben eingenommen hatte, sah ich ein Frauenzimmer an einer der Jalousien lehnen, als ob sie horchte; der Gestalt nach war’s unsere Stubennachbarin, die Fritschin; gleich darauf hörte ich ein Geschrei, die Frau pochte an die Jalousie, dann wurde die Thür aufgerissen und ein Mensch stürzte heraus und auf und davon. Wahrscheinlich war’s Dein Doctor. Die Fritschin wurde nun von der Alten eingelassen.“

„Gut – laß uns einmal horchen“ – sagte der Sergeant.

Die Beiden gingen zu horchen.

„Ach Gott, erbarme dich, wie ich noch immer zittere!“ hörten sie die Alte reden – „es ist, wie ich Dir sage: er trachtet mir nach dem Leben – ein Glück, daß Du noch da warst, sonst war es um mich geschehen. Es soll auch Dein Schade nicht sein, ich will Dir’s in meinem Testament gedenken.“

Den Gedanken, daß Rudolf der Alten nach dem Leben trachte, suchte die junge Frau ihr zwar auszureden, aber es gelang ihr nicht, und jene drang heftiger als erst in sie, die Nacht bei ihr zu bleiben. Sie versprach dies, sobald sie von ihrem Kinde fortkönne.“

„Nun komm, Vater,“ sagte der Begleiter des Sergeanten, als die Stubenthür ging, „die Fritschin geht jetzt – wir haben nun schon ein Stündchen Zeit, unsern Abschied zu feiern. Die Andern sind schon lange beisammen.“

Die Beiden entfernten sich. Die Fritschin verließ das Haus der Wittwe und ging nach ihrer Wohnung.

Inzwischen suchte Rudolf seinen Freund auf. Nach vergeblicher Nachfrage in dessen Wohnung stieß er auf ihn vor seiner eignen. Der wackere Maler begrüßte ihn mit stürmischer Freude. „Bruder, Alles gut! Der Mackintosh hat bezahlt – zweihundert Louis – hier sind zwanzig für Dich; die Mutter Brummeisen ist befriedigt und Du hast absoluten Kredit bei ihr. Morgen früh mit dem ersten Dampfwagenzuge reise ich nach Berlin und kehre nur als glücklicher Gatte heim.“

Rudolf nahm das dargebotene Geld. „Zum Einlösen der Instrumente ist es heute zu spät, aber morgen soll dies mein erstes Geschäft sein, und dann geht’s stracks an’s Werk! – Aber, Du Guter – wie soll ich Dir danken, wann werde ich auch nur Dein Darlehn zurückzahlen können?“

„Laß das jetzt – vollende nur Deine Operation; die wird Dich schnell berühmt machen; dann ist Dir eine glänzende Praxis gesichert, und vielleicht finde ich Deine holde Patientin gar als Dein Bräutchen wieder.“

Rudolf erglühete. Nun lud ihn Adolf ein mit zur Mutter Brummeisen zu gehen, wo sie „bei einer kleinen Bowle“ den Abend froh verplaudern wollten.

Als die Beiden sich dem Kaffeehause an der Schifferallee näherten, scholl ihnen lärmender Jubel entgegen. „Da geht’s lustig zu,“ bemerkte Rudolf beim Eintritt in das Haus, „hoffentlich bleiben wir für uns.“

„Wir gehen in’s Privatstübchen der Mutter Brummeisen, wenn schon ich mich bisweilen gern in solch’ Getümmel mische, um Gesichter zu studiren,“ entgegnete Adolf; „aber heute muß hier etwas Besonderes los sein.“

Im Stübchen der Wirthin angekommen, erfuhren sie, es sei eine kleine Gesellschaft Auswanderer, die morgen früh nach Amerika abzusegeln gedenke, mit ihren Freunden hier zusammengekommen, um ein Abschiedsgelag zu feiern. Die eigentliche Seele davon sei der Sohn des Polizeisergeanten Huker.

„Ein schöner Patron“ – bemerkte Adolf, „an dem das Vaterland wahrlich nichts verliert. Ein Gauner, der dem Zuchthause sicher nicht entgangen wäre, wenn ihn sein Alter nicht über’s Wasser spedirte.“

„Dieser scheint auch seelenfroh zu sein, daß er das Früchtchen los wird.“ sagte die Wirthin, „denn er trinkt um die Wette mit den Schiffern, die mit geladen sind. Und sein Sproß scheint’s darauf angefangen zu haben, den Vater zu guter Letzt noch im Haarbeutel zu erblicken, denn er stellt die Schiffer an, ihm tüchtig zuzutrinken. Alle Augenblicke spricht der Alte, er müsse fort, der Dienst rufe ihn, aber immer von Neuem läßt er sich zutrinken.“

Die Freunde genossen vergnügt ihre Bowle. Ungefähr nach einer Stunde wurden sie durch einen Heidenlärm an die Glasthür gelockt, die sie von dem Gastzimmer trennte. Da sahen sie, wie Matrosen den bis zur Bewußtlosigkeit trunkenen Polizeisergeanten in eine Art Hängematte legten und unter Vortritt seines Sohnes und Absingung eines Begräbnißliedes ihn forttrugen.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_072.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2017)