Seite:Die Gartenlaube (1856) 076.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

um den Blutzufluß zum Haarkeime zu steigern. Zu diesem Zwecke ist vorzüglich Wärme (trockne, feuchte oder in Dampfform) und Reibung (mit Flanell oder Bürste) zu empfehlen; reizende Einreibungen (Pomaten und Waschwässer, mit spanischem Fliegenstoffe oder Brechweinstein) schaden gewöhnlich mehr als sie nützen, weil sie zu leicht eine übermäßige Reizung der Haut veranlassen. Aber freilich muß jene gelinde Reizung oft wiederholt, längere Zeit consequent fortgesetzt und allmälig gesteigert werden, wenn sie helfen soll. Hilft sie dann nicht, so ist der Boden des Haares (die Haut, der Balg, der Keim) verändert, und in diesem Falle bringt kein Mittel neue Haare hervor und würde es auch noch so sehr angepriesen. Das häufige Abrasiren der Haare beim Ausfallen derselben wirkt ebenfalls als Reizmittel und zwar in manchen Fällen, wenigstens bis zum 40sten Lebensjahre, günstig, in andern aber (vielleicht wegen Uebertreibung der Haarbildung) nachtheilig.

Bisweilen tragen kleine, nur durch das Mikroscop erkennbare Pilze, die im Haarbalge wuchern, die Schuld des Ausfallens der Haare, sowie auch manche, besonders dem Kindesalter eigenthümliche Kopfausschläge Kahlköpfigkeit nach sich ziehen. Alle diese Leiden verlangen eine ordentliche ärztliche Behandlung, und zwar so bald als nur möglich nach ihrem ersten Erscheinen. - Die Brüchigkeit und Spaltung der Haare kann durch Abschneiden und bessere Ernährung derselben gehoben werden. - Der Weichselzopf, bestehend in einer Verfilzung und Verklebung der Haare (nicht blos des Kopfes, sondern auch des Bartes und der Achselhöhle), dürfte wohl stets eine Folge von Unreinlichkeit und vernachlässigter Haarpflege sein. Er kommt hauptsächlich an den Ufern der Weichsel (besonders am rechten Ufer derselben) und des Dnieper vor, und ist sehr oft mit einem Ausschlage der Kopfhaut, sowie mit Absetzung eines schmierigen übelriechenden Hauttalges verbunden. Man heilt den Weichselzopf durch Abschneiden der Haare und Waschungen des Kopfes mit grüner Seife; bei Ausschlägen nützen Fetteinreibungen.

Aus dem Gesagten wird nun hoffentlich jeder Leser leicht ersehen können, daß alle jene Anpreisungen von untrüglichen Universalmitteln gegen Kahlköpfigkeit u. s. w. nichts als Beutelschneider-Charlatanerien sind. Daß die Homöopathie gegen das Haarausfallen und die Kahlköpfigkeit eine große Menge von ausgezeichneter, innerlich in Nichts-Form zu gebrauchender Arzneimittel besitzt, versteht sich von selbst, und es bleibt nur merkwürdig, daß es unter den Propheten und Anhängern der Homöopathie noch so viel Kahlköpfe und Beperrückte giebt.

Bock. 




Sinn und Besinnung. Gedanke und Gedächtniß.
Eine psychologische Andeutung.
Das Telegraphennetz des Nervensystems. – Wie erhalten sich die Eindrücke im Gehirn. – Besinnen. – Die Nerventhätigkeit in ihren Aeußerungen nach Außen. – Der Gedanke und seine Macht. – Das Nervensystem eine Orgel.


Es war längst eine bekannte Thatsache, daß wir durch das Telegraphennetz des Nervensystems von den Stationen der Sinnesorgane aus immer blitzschnell mit den neuesten Nachrichten und Vorfällen um uns her in Kenntniß gesetzt werden. Aber erst neuerdings haben die mühsamen und genauen Forschungen des Anatomen und Physiologen diese telegraphischen Institute zu einem Material wirklichen Wissens erhoben, so daß nun erst der Psycholog hervortreten kann, um auf sicherem Boden sein Heil zu versuchen.

Wir haben Gedanken, Ideen, wir wissen. Wie kommen wir dazu? Ideen (oder das, was wir wissen) sind in ihrer einfachsten Form nur Erinnerungen an frühere telegraphische Depeschen von außerhalb, an Eindrücke und Gefühle. Diese machen das Hauptmobiliar der Intelligenz, das Hauptwaarenlager unseres Wissens aus. Bezeichnungen für den Geist und das Gedächtniß (Gedanke und Gedächtniß) stammen daher auch in allen Sprachen von derselben Wurzel. Wir kommen also in der einfachsten Form nur durch Gedächtniß und Erinnerung zu Ideen und Gedanken. Wie aber wird die Erinnerung zum Gedanken? Die durch’s Nervensystem von Außen in uns hineintelegraphirten Depeschen, wie werden sie aufbewahrt und wieder lebendig, wenn wir uns ihrer „erinnern?“ Durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen nehmen wir wahr, bekommen wir Eindrücke. Ein Druck von Außen wird innerlich, d. h. die von Außen gedrückten und in Thätigkeit gesetzten schwingenden Nerven setzten ihre Schwingungen bis in’s Gehirn fort, welches sie zum „Bewußtsein,“ „Innewerden“ verarbeitet. Die von Außen in Schwingung versetzten Nerven zittern, auch wenn die von Außen erregende Ursache aufhört, noch eine Zeit lang fort und beruhigen sich erst je nach Spannung und „Temperament.“ Wir freuen, ärgern uns oft noch lange, wenn die directe Ursache der Freude oder des Aergers aufgehört hat, auf uns von Außen zu wirken. Das giebt denn die directe Erinnerung, die eigentlich eine fortgesetzte Gegenwart ist. Aber auch, wenn die Nerven sich beruhigt und inzwischen als Organe für unzählige andere Nachrichten gedient haben, können sie wieder ohne die physische Ursache, welche zuerst die Freude oder der Aerger erregte, durch die Kraft der Association, durch Belebung und Hervorsuchung des gleichsam im Gehirn deponirten Eindruckes in dieselben Schwingungen versetzt werden, wie durch die erste physische Ursache von Außen. Wir freuen uns über eine Freude, die wir vor Jahren hatten, heute noch einmal, und ärgern uns über ein Unrecht, das uns vor einem halben Menschenalter geschah, gelegentlich eben so herzhaft, wie das erste Mal. Diese Aufbewahrungs- und Erneuerungsfähigkeit von Eindrücken in unserm Nervensysteme ist die Grundlage aller andern Functionen in unserer intellectuellen Künstlerwerkstatt.

Nun kommt aber die wichtige Frage: Wie erhalten sich die von Außen gesammelten Eindrücke in dem Gehirne oder dem Geiste? Wie fangen sie’s an, daß sie bei der unaufhörlichen neuen Zufuhr durch die fünf Sinne nicht verderben, zerrissen, verlegt und „verkramt“ werden? Man hört darauf zwei Antworten, eine alte, gewöhnliche, sehr verbreitete, und eine neue, besser begründete in der genauern Kenntniß des Hirns und der Nerven. Nach der alten Antwort ist das Hirn eine Art Schuppen oder Keller, worin die Eindrücke aufbewahrt und zugleich gegen Schimmel und Mottenschaden verassecurirt werden. Diese Vorrathskammer liegt ganz abgesondert von den aufnehmenden, neue Eindrücke empfangenden Apparaten des Hirns. Irgend ein dienstbarer Johann oder Friedrich schleppt sie sofort herbei, wenn sich der Herr im Hause deren „erinnern“ will. Wahrscheinlieh sind sie numerirt, wie die ungeheuere Masse Gevatter stehender Artikel im Pfandhause, so daß Friedrich keinen Irrthum begehen kann. Freilich bleibt es dabei immer noch ein Räthsel, respective ein Luxus, daß sich entweder Herr Geist oder Knecht Friedrich der Nummer erinnern müssen, um die damit numerirte Sache aufzusuchen. Es wäre dann ja wohl viel einfacher, sich ohne Mittelsperson gleich auf die Sache selbst zu „besinnen.“

„Besinnen.“ Ein sinniges Wort. Es drückt den Proceß und das Geheimniß der Erinnerung aus. Der Eindruck, vergessen und versteckt, wird wieder „besinnt,“ wie man sagt, eine Sache werde „besprochen,“ d. h. mit Sprache bekleidet, in Sprache verwandelt. Man besinnt sich, indem man etwas Vergessenes wieder mit Sinnen begabt, d. h. den entsprechenden Nervenapparat nöthigt, den ursprünglichen, ersten Proceß, durch den wir den Eindruck zuerst empfingen, zu wiederholen. Dies führt zur zweiten Antwort auf die obige Frage. Das Hirn ist die Centralgewalt der Nerventhätigkeit, der Hinkeldey aller telegraphischen Drähte und Stationen, womit „die Hauptstadt der Intelligenz“ geheimnißvoll durchwoben ist. Das Centrum aller Nerven in dem Gehirn besteht aus der Verdichtung und Vereinigung aller durch den Körper verzweigten und verwobenen Nerven. Nerventhätigkeit wird uns blos bewußt, wenn ihre Schwingungen oder electrisch erregten Leitungsdrähte den Eindruck von Außen durch dieses Centrum hindurchleiten oder hin und her zwischen den Ganglien und den Sinnes- oder Bewegungsorganen. So leicht und schnell wir auch den Arm bewegen, keine Muskel, keine Sehne bewegt sich eher, als bis sie im Centrum angefragt und Antwort, oder: den Befehl direct von da aus erhalten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_076.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2017)