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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

zu machen schien, hatte uns so oft vom geflügelten Löwen der mächtigen Lagunenstadt erzählt, daß die Wunder des Orients, die Schätze Indiens, die Schrecken der Inquisition, die Heldenthaten eines neuen Römerreichs, der Sagenreichthum der Kreuzzüge, die volle Gewalt jener ersten italienischen Landmacht und größten europäischen Seemacht ihrer Zeit, in plötzlicher Erinnerung heute noch in mir chaotisch auftauchen, bei der Vorstellung jenes trotzigen Markuslöwen und bei der Erinnerung an – die hügelreiche Nase des liebevollsten alten Lehrers meiner Kinderjahre.

Dieser Nasenflügel und jene Fittige des ehernen Wüstenkönigs auf der Piazzetta von Venedig beschäftigten meine Seele ganz, als von Padua her, in einer wundervollen Juninacht, das gewaltige Dampfroß mich der fabelhaften Seestadt entgegenschleifte, hin über die langgestreckte Lagunenbrücke, einen riesigen Damm von 222 Bögen, wohl die längste Brücke der Welt.

Es war eine jener oft besungenen Sternennächte, die das glückliche Italien uns Nordländern zum Feenreiche machen. Der milchweiße Glanz der Sterne, deren man hier Millionen mehr zu erblicken glaubt, als über unsern heimathlichen Wäldern, scheint das Blau der Luft zu verdrängen. Meer und Himmel bilden eine einzige Glorie, wie ein riesengroßer Heiligenschein deucht dem andachtsvoll erhobenen Gemüthe die weite Welt.

Das Geräusch des Bahnhofes riß mich aus der Nachempfindung dieses Bildes. Und doch ist das Treiben hier bei weitem nicht dem unseligen Lärmen unserer Bahnhöfe zu vergleichen. Der Italiener, Sohn einer milderen Natur, scheint Hamlet’s: „behandelt Alles gelinde“ nicht aus dem Sinne zu verlieren. Selbst wo er geräuschvoll werden muß, dämpft doch der weiche Laut seiner Sprache, der besonders dem venezianischen Accente eigen, leicht die Härten, und so wird hier sogar das Getöse von Menschenmassen musikalisch.

Ermüdet von der langen Fahrt, entriß ich mich jedoch schleunigst dem Gewoge der Menschen, um mich dem Wogen auf den Wogen in die Arme zu werfen. Die Straßen sind nämlich hier meistens mit Wasser gepflastert und Gondeln und Battelli vertreten hier die Stellen von Roß und Wagen. Solcher Gassen, deren Häuser sich schnurgerade aus dem Wasser erheben, hat Venedig 154, selten ist ein schmaler Kai (Uferstraße) vorhanden, der den Fußgängern erlaubt, wie auf einem Trottoir längs des Wassers zu gehen. Die eigentlichen Straßen sind enger als irgend in einer andern Stadt; oft kann man die Häuser zu beiden Seiten mit den ausgebreiteten Armen erreichen, manchmal sogar mit eingestämmten Ellenbogen. Es giebt Gassen von nur zwei Fuß Breite, so daß man nicht einmal einen Regenschirm aufspannen kann, und wenn man Jemandem begegnet, sich an die Wand drücken muß, um ihn vorbeizulassen. Die größte Straße, mit den prächtigsten Kaufläden und Buchhandlungen ausgeschmückt, die Merzeria, den Linden in Berlin und dem Kohlmarkte zu Wien an Pracht nichts nachgebend, mißt gleichwohl nur 4-6 Ellen Breite. Dagegen sind alle Gänge und Wege - bis auf einige entfernt liegende größere Plätze - mit kostbaren Quadersteinen gepflastert. Staub und Schmutz kennt man hier nicht, man kann die ganze Stadt, wie einen Salon, selbst bei schlechtem Wetter, in leichten Schuhen durchwandern: woher es kommt, daß der Venezianer bis auf den heutigen Tag nicht gewöhnt ist, Stiefeln zu tragen.

Eine Todtenstille umfing mich, als meine Gondel in den ersten Kanal der Stadt eingelenkt, Nacht über mir, Nacht unter mir. Sanft wiegte mich der leichte Nachen. Der Gondolier verrichtete schweigend sein geräuschloses Geschäft. Zurückgelehnt in die Polstersitze des schwarzbehangenen Häuschens, welches sich auf jeder Gondel zu befinden pflegt – ein altes Luxusgesetz, das längst zur Nationalsitte geworden, erlaubt den Gondeln nur die schwarze Farbe, bis auf den Fußteppich, der bunt sein darf – fuhr ich auf den schwarzen Wogen dahin, die nur im Fahrwasser mit grünlichen Flammen leicht phosphoreszirten, die einzigen lichten Punkte in diesem schwarzen Gemälde. Es war beinahe unheimlich. Keine Spur von Leben. Der Nachtwind wehte ungehört über diese Tiefe, die er nicht erreichte. Kein Baum, kein Zweig, kein Blättchen erzitterte in dieser steinernen Gruft. Wie Schatten schwebten stumme Gondeln an uns vorüber. Nur selten ein dumpfgedehntes „Eh!“ vernahm ich, die Warnung des umlenkenden Barcariols. Als ob mich Charon über den Styx führe, so ein Todesgrauen durchbebte mich auf diesem feuchten Pfade. Unwillkürlich griff ich mir in den Mund, um den Obolos herauszunehmen, welchen die Griechen ihren Todten für den unterirdischen Fährmann auf die Zunge zu legen pflegten.

Doch ein heller Schein versetzte mich plötzlich unter die Lebenden. Flügelthüren öffneten sich an einem mächtigen Palaste, und die blendenden Marmorstufen warfen den Schein von Windlichtern und Fackeln zurück. Festlich geputzte Damen und Herren bewegten sich die Stiegen herab, und die Barcariri stießen vom Ufer. Ein großer Brückenbogen, durch den mein schwarzer Nachen pfeilschnell dahinfuhr, entzog mir das Bild des blühenden Lebens, und starre Nacht tödtete mir wie zuvor plötzlich den geblendeten Blick. „Ein Bild unsers Erdendaseins!“ rief es in mir, und Goethe’s Distichen klangen in meinem Gedächtniß wieder:

„Diese Gondel vergleich’ ich der sanft einschaukelnden Wiege
und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg.
Recht so! Zwischen der Wieg’ und dem Sarge wir schwanken und schweben
Auf dem großen Kanal sorglos durch’s Leben dahin.“

Den letzten Pentameter stoppelte ich mit Mühe in der Rumpelkammer meines Hirns zusammen, was mich aus meinen stoischen Philosophemen herausriß. Ein leiser Stoß meines Wasserrosses vollendete diese Thatsache. An einer breiten Treppe legte die Barke an; ich erstieg die Riva und fand mich bald in meinem Albergo, nach kurzer Stärkung des Magens die Ruhe der Nacht zu genießen.

Der erste Eindruck Venedigs war so befremdlich und mächtig gewesen, daß die ganze Nacht hindurch mein Geist damit beschäftigt war, und in schnell wechselnden Bildern die Geschichte der alten Republik berundschaute. Ich sah, wie in grauen Zeiten, vor Attila’s Alles verheerenden Hunnenschaaren, Flüchtlinge der Veneter sich auf die Laguneninseln des adriatischen Meeres retten, und mit unendlicher Mühe Jahrhunderte hindurch dem treulosen Sand- und Schlammboden, ja selbst dem Meere und den sumpfigen Lagunen, festen Boden abgewinnen, indem sie ganze Wälder von Pfählen einrammen. Wie sich ihre Vereinigung zu Gemeinden und Völkerschaften ausdehnt, die sich als Republik zusammen thun, und schon im 8. Jahrhundert einen Herzog, Dux oder Dogen, wählen. Diese Wahlfürsten sah ich zu Gerichte sitzen und in jener gewaltsamen Zeit, wo Geld theuer, Blut aber wohlfeil war – ganz im Gegensatz zu spätern Jahrhunderten – ohne Weitläufigkeit Prozesse schlichten und öffentlich Recht sprechen. Wie dann Parteiungen den Staat zerwühlen, Familienfehden und Bürgerkriege das eigene Fleisch des Staatskörpers verzehren. Lange Reihen von Dogen zogen kopflos an mir vorüber; denn selten starb einer natürlichen Todes. Die demokratische Form unterliegt nach und nach den Uebergriffen der mächtiger und reicher werdenden Herzoge und der Vornehmen, Nobili, die ihre Familien in das berühmte Goldene Buch eintragen lassen, und der Verfassung den Charakter der aristokratischen Oligarchie aufprägen. Die Schifffahrt, und nach ihr die Handelsmacht der Republik, sehe ich sich ausdehnen und den großen Dogen Heinrich Dandolo, der mit neunzig Jahren und blind die Regierung übernahm, mit den kreuzfahrenden Franzosen in Gemeinschaft, Konstantinopel erobern. Der Staat wird immer reicher, erlangt durch Kauf und Eroberung immer mehr Besitzungen, auch auf der Terra ferma von Italien, so daß die Dogen unter andern den kuriosen Titel annehmen: „Herren von anderthalb Viertheilen des ganzen römischen Reichs.“ Immer weiter tragen die Venetianer ihre Waffen, ihre Münzen, bis sie im 14. und 15. Jahrhunderte den Glanz des alten römischen Reichs über ihre Republik verbreiten. Wie in ersterem, wurden auch hier nach und nach die Sitten milder, Künste und Wissenschaften blühten auf, und schienen ein Monopol dieses prächtigen Staates zu einer Zeit, wo ganz Europa in Barbarei verfallen war. Aber die Sittenverderbniß des alten Rom kehrte auch in dessen Nachbildung, der üppigen Venezia, ein und zerstörte die Lebenskraft. Als nun vollends die Entdeckung Amerika’s und des Seewegs nach Ostindien, um Afrika herum, Venedig seinen ergiebigsten Handel mit Indien entzog, als die wilden Osmanen Konstantinopel genommen und dem Freistaate seine blühendsten Provinzen geraubt, Cypern, Candia, Morea etc., da war die stolze Kraft auf immer gebrochen. Schlemmerei und Tyrannei entmannte die römergleichen Veneter je mehr und mehr, die Republik vegetirte nur noch ein neutrales Leben dahin, dem, obwohl wieder erst nach Jahrhunderten, der Geist der französischen Revolution durch Bonaparte den Garaus machte. Vierzehn Jahrhunderte hatte die Republik bestanden, als sie sich am 12. Mai 1799 ohne Schwertstreich ergab, und der letzte Doge sammt dem Großen Rathe abdankte. Nach der französischen Herrschaft

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_080.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2017)