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gezogen. Er gestand jene Identität ohne Weiteres zu und wollte erwarten, was die höchste Staatsbehörde über einen Vater beschließen würde, welcher der Stimme der Natur gehorsam gewesen.

V.
Die Verurtheilung.

Ein halbes Jahr der Untersuchung war verflossen. Da kam aus England die gerichtliche Aussage des Käufers von Adolf’s Bild, wodurch sich dessen Antheil an dem Proceß so weit erledigte, daß der Untersuchungsrichter ihn auf Handgelöbniß entlassen zu können glaubte. Als sich der so lange um sein Liebesglück betrogene Künstler auf freiem Fuße befand, war sein Erstes nicht etwa, daß er in die Arme der bekümmerten Braut eilte, sondern daß er für die Rettung des Freundes Sorge trug. Er verband sich mit einem geschickten Advokaten, der Rudolf’s Vertheidigung übernehmen und Alles aufbieten sollte, den wahren Mörder zu entdecken. Dann erst suchte er sein eigenes Glück, an dem es dem heitern und biedern Künstler in den Armen einer seiner würdigen Geliebten nicht fehlte.

Endlich waren die Akten zum Spruche reif oder vielmehr überreif. Der Untersuchungsrichter verschickte sie mit dem Bewußtsein, dem hohen Gerichtshof durch ein Meisterstück der Inquisitionskunst Respekt einzuflößen. Nicht als ob er ein malignanter Mensch gewesen wäre, etwa eine Art Jeffrey’s greuelhaften Andenkens; im Gegentheil, er war ein zärtlicher Gatte und Vater, ein Freund der Nothleidenden — aber ein Fanatiker des Rechtes — „der römische Rechtszopf hängt ihm armstark hinten,“ sagte Adolf von ihm, „und hält ihn auf dem Tretrade der Paragraphentreterei fest.“

„Also Du glaubst in der That, unser Doktor könne verurtheilt werden?“ fragte Clelia ihren Vater am Tage, als die Akten an das Obergericht abgegangen waren.

„Nach dem Stande der Akten,“ erwiederte der Gefängnißverwaltet traurig, „ist daran nicht zu zweifeln. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, den armen guten Menschen bald an einen schaurigeren Ort abzugeben, als dieser ist.“

Clelia preßte die Hand krampfhaft auf den Busen. — „O, warum mußte Eduard sich von dem Dänen blenden lassen!“ sagte sie halblaut. Da wurde die Thorklingel gezogen. Bald darauf meldete die Haushälterin, der Maler Walter begehre Einlaß. „Den sendet Gott!“ rief Clelia, ihre Hände faltend. Ihr Vater beachtete den Ausruf nicht weiter und ging, den Gemeldeten selbst einzulassen.

Adolf hatte während seiner Gefangenschaft das Mißtrauen des Greises überwunden. Er brachte einige Erfrischungen für den gefangenen Freund, und hoffte jetzt nach geschlossener Untersuchung zu ihm gelassen zu werden. Vater Widerhold hatte kein Bedenken mehr dagegen. Er führte ihn zu Rudolf. Kaum war Clelia allein, als sie auf ihre Knie sank und Gott dankte, daß er sie, wenn auch leiblich erblinden lassen, doch nicht mit Geistes- und Herzensblindheit geschlagen, und daß er sie in der Zeit der höchsten Gefahr den Weg der Rettung, den sie durch des Dänen Verrath schon für versperrt gehalten, eben so klar erkennen lassen, als einst die Unschuld und den hohen Werth des Geliebten.

Wie ihr Vater mit dem Maler zu ihr zurückkehrte, zog sie ersteren auf die Seite und bat ihn, sie malen zu lassen. Er sah sie verwundert an.

„Wie kommt Dir dieser Einfall?“ fragte er.

„Da Eduard mich nun wohl so bald nicht wieder sehen darf, so soll er wenigstens mein Bild haben,“ erwiederte sie erröthend.

„Wollen Sie meine Tochter jetzt noch malen?“ fragte der Greis den Künstler, und dieser sagte mit Freuden zu.

Schon den andern Tag begann er sein Werk. Arglos ließ der Greis ihn mit dem holden Kinde allein. Und kaum wußte Clelia dies, als sie den Maler in seiner Arbeit unterbrach.

„Ich muß vor allen Dingen über einen Gegenstand mit Ihnen reden, der Ihnen gewiß eben so am Herzen liegt wie mir.“

„Ich bin ganz Ohr,“ versicherte Adolf.

„Helfen Sie mir Ihren Freund retten!“

„Dies zu können, ist mein eifrigster Wunsch, und ich habe schon nach Kräften daran gearbeitet.“

Clelia’s Antlitz verklärte ein freudiges Lächeln. Adolf erzählte ihr, was er bis jetzt gethan. Freilich hätten die Nachforschungen des Advokaten noch zu keinem Resultat geführt — aber er hoffe, Gott werde sie mit Erfolg krönen.

Clelia schüttelte getäuscht das Köpfchen. „Das ist mir zu ungewiß,“ sagte sie, „ich habe ein anderes Mittel gefunden, unsern Freund zu retten. Aber dazu bedarf ich Ihrer Hülfe. Würden Sie sich zu einer Reise nach Norwegen entschließen, wenn ich Ihnen die nöthigen Mittel dazu gäbe?“

Adolf erklärte sich bereit, für Rudolf an den Nordpol zu reisen. Clelia stand auf, ging an ihre Toilette und nahm ein kleines Etui heraus. Es war dem Maler ein rührender Anblick, das holde blinde Geschöpf sich so sicher zurechtfinden zu sehen. Sich wieder setzend sagte sie:

„Ich habe in Drontheim einen Bruder, wie Sie wohl schon wissen, einen Rheder und hochherzigen Seemann. Da ich Ursache habe, einer Sendung an ihn durch die Post zu mißtrauen, so sollen Sie mein Courier sein, und meine schriftliche Bitte an ihn durch Ihre Beredtsamkeit unterstützen. Ein zuverlässiger Schiffer von ihm soll mit einem Dampfer hier im Hafen sein, wenn des Doktors Urtheil ankommt. Leider darf er nicht selbst kommen. Damit wir den ungefähren Zeitpunkt erfahren, soll der Vertheidiger unsers Schützlings Erkundigung darüber einziehen, es koste, was es wolle. Hier, nehmen Sie diesen Schmuck und versilbern ihn — wenn Sie zu dem Allen bereit sind.“ —

„Seelengröße, dein Name ist Weib!“ rief Rudolf begeistert. „Ja, liebes Fräulein, ich bin zu Allem bereit, was Sie wünschen — aber behalten Sie Ihren Schmuck.“

„Nein — wenn Sie mich nicht kränken wollen, so nehmen Sie ihn — ich besitze mehr dergleichen — und welchen Werth hat es denn für mich?“

Adolf konnte die Annahme nicht länger verweigern. „Ich werde Rechnung führen über die Verwendung dieses Darlehens, das ich darauf erhalte.“

„Aber Alles bleibt unser Geheimniß,“ sagte sie, „jetzt bitte ich Sie, in Ihrer Arbeit fortzufahren.“

Das Bild war in wenig Tagen vollendet. In der Zwischenzeit ließ Adolf die von Clelia gewünschte Erkundigung einziehen, und als dies geschehen war, machte er sich mit einem Briefe von ihr auf die Reise. In einem Nachbarhafen fand er gleich ein norwegisches Dampfboot, das ihn sehnell an’s Ziel brachte.

Schon vierzehn Tage lag das Dampfschiff „Norman“, Kapitain Lund, im Hafen, und die Hafenbeamten, Makler, Schiffer und andere Leute, die mit dem Schiffsverkehr zu thun hatten, zerbrachen sich die Köpfe über den Zweck seines langen Verweilens, als ein anderes Ereigniß diese Seltsamkeit in den Hintergrund drängte. Der „Verwandtenmörder“, Doktor Grimm, war vom Obergericht „blos“ zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe statt zum Tode verurtheilt worden.

Mit großer moralischer Entrüstung wurde die Kunde von dieser Gelindigkeit der Justiz von dem Pöbel im Frack wie im Wamms aufgenommen; denn durch sie kam ja wieder ein Loch in das Gebäude der öffentlichen Ordnung und Sicherheit! Nur wenige wagten den „von der Noth Getriebenen“ zu beklagen, und blos die Armen, denen er unentgeltlieh Hülfe geleistet, zweifelten an seiner Schuld.

Rudolf selbst war aufs Tiefste erschüttert durch das ihm verkündete Urtheil. Er hatte es bis auf den letzten Augenblick für unmöglich gehalten, obgleich Vater Widerhold nicht unterließ, ihn darauf vorzubereiten. Vernichtet ging er in seinen Kerker zurück, und als die Thür hinter ihm geschlossen war, brach er laut weinend zusammen. Von welcher Höhe war er aber auch plötzlieh herabgestürzt! In was für rosigen Zukunftsträumen hatte er sich bis jetzt gewiegt! Wie hatte er die neugeschenkte Freiheit benutzen, mit welch’ neuem Muthe sich in’s Leben werfen, für seine Liebe Alles wagen, keck alle Hindernisse besiegen wollen, die sich seinem Glück entgegenstellten! Wie hatte er dieses Glück im Geiste schon voraus genossen, das unaussprechliche Glück an Clelia’s Seite! Und nun sollte er sein Leben in einem Zuchthause beschließen!

Aber wie er in Thränen zerfließend da lag, öffnete sich die Klappe an seiner Thür, und eine Engelsstimme rief herein: „Weine nicht! verzweifle nicht!“ Es war Clelia, die eine augenblickliche Abwesenheit ihres Vaters benutzend zu ihm kam. Er erhob sich, sie streckte ihre Hand hinein, und er preßte sie unter Thränen an

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