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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

seinen Mund. „Bau’ auf Gott und Dein Lieb!“ flüsterte sie. — „Weg hat er aller Wegen, an Mitteln fehlt’s ihm nicht, wie’s in dem schönen Liede heißt. Hoffentlich läßt der Vater Dich bald zu mir, dann musiciren wir zusammen. Inzwischen wird es Abend — und wer weiß, wie es morgen ist. Nur Muth, mein Freund!“

Dann entzog sie ihm die kleine zarte Hand, streichelte ihm die Wange und schlich sich wieder fort.

„O Gott — welch ein Engel!“ sagte Rudolf, als er wieder allein war. „Ja, ich will nicht verzweifeln — noch bleibt mir ja der Recurs — inzwischen kann meine Unschuld klar an den Tag kommen. Doch will ich nicht darauf pochen, ich will mich auf das Schlimmste gefaßt machen — will ihr in nächster Zeit noch ihr Augenlicht wiedergeben. Das Bewußtsein, diesem Engel die größte Wohlthat nach dem Leben erwiesen zu haben, wird mich Alles ertragen lassen. Ja — ich will jetzt nicht mehr zittern — der Gedanke, daß sie ohne mich vielleicht ihr Leben lang in dieser Nacht wandeln muß, wird mich fest machen — ich will sie operiren!“

Als er später mit Clelia musiciren durfte, flüsterte sie ihm in einem unbewachten Augenblicke zu: „Versprechen Sie mir, zwischen heut und morgen blindlings Alles zu thun, was ich von Ihnen verlange.“ Er wunderte sieh, gab aber das Versprechen, und die Musik nahm ihren Fortgang.

Er spielte und sang sich wieder Muth und Hoffnung in’s Herz, und mehr noch that dies Clelia’s Gesang und heitere Stimmung. Getröstet kehrte er in seine Zelle zurück und streckte sich auf sein Lager.

Es mochte etwa Mitternacht sein, da weckte den leise Schlummernden ein leichtes Geräusch. Seine Thür ging auf — Clelia, mit einem Licht versehen, unter einem Arm einen Pack tragend, kam herein. „Clelia — meine Clelia!“ rief er aufspringend. —- „Still!“ flüsterte sie; „zieh diese Sachen hier an — es ist eine Gensd’armenuniform — säume nicht! ich will inzwischen an der Treppe lauschen, ob Alles noch fest schläft“ —

„Aber Clelia —“

„Kein Aber —— Du gabst mir Dein Wort, heute blindlings zu thun, was ich von Dir verlangen würde“ — Und sie zog sich zurück.

Er legte die Gensd’armenkleidung an, auch der Pallasch fehlte nicht. Als er fertig war, kehrte Clelia zurück. „Die Stiefel mußt Du ausziehen,“ sagte sie, an seinem Tritt hörend, daß er sie angezogen. „Nimm sie in die Hand und folge mir!“

„Ich soll fliehen?“ sagte er zaudernd, „und Dich und Deinen braven Vater in’s Unglück stürzen? Nimmermehr!“

„Ein Mann hält sein Wort,“ sagte sie; „Du wirst mich tödten, wenn Du die Rettung verschmähst. Ich überlebte es nicht, wenn sie Dich in’s Zuchthaus führten.“

Sie suchte seine Hand und zog ihn fort. Leise schlichen sie durch den Corridor, die Treppen hinab, durch die Hausflur — die Thür stand schon offen. „Nun Gott mit Dir!“ flüsterte sie, preßte seine Hand an ihre Lippen und drängte ihn hinaus. Draußen fühlte sich Rudolf von kräftigen Männerarmen gefaßt ——— es war Adolf, der ihn erwartete und, indeß Clelia die Hausthür innen verriegelte, den Freund mit sich fortriß. Das Hofthor war auf Clelia’s Veranstaltung nur angelehnt, ohne Gefährdung erreichten die Beiden den Hafen.

Am frühen Morgen wunderte sich Jedermann in der Nähe des Hafens, daß der „Norman“ verschwunden war.

Zur gewohnten Zeit weckte Clelia mit einem Kuß ihren Vater und meldete ihm, was sie gethan. Zugleich gestand sie ihm ihre erwiederte Liebe. Der Greis sagte ernst aber ruhig: „Was Gott thut, das ist wohl gethan! Freilich streckt er nicht die Hand aus den Wolken, wie ein Fabelgott, sondern gute Menschen sind seine Finger. Ueber meinen grauen Kopf wird es zwar nun hergehen — in Gottes Namen! er ist mit Ehren grau geworden — und Du, mein Kind, wirst nicht verlassen sein.“

„So hättest Du wohl selbst die Hand zu Rudolfs Rettung geboten, und ich that Unrecht, mein Vorhaben Dir zu verheimlichen?“

„Nein, mein Kind, meinen Diensteid hätte ich nimmer verletzt, der barmherzige Gott gab Dir dieses selbstständige Handeln ein. Ich hätte es müssen verhindern, wenn ich darum gewußt. — Jetzt will ich gleich meine Meldung machen — möglich, daß man mich nun für den Entflohenen einsperrt.“

„Das werden sie nicht! das dürfen sie nicht! Ich gehe mit Dir, und wenn eins von uns eingesperrt werden soll, so müssen sie es mit mir thun!“

Und nun entstand ein Wettstreit zwischen Vater und Kind, wer die Schuld der Entweichung Rudolfs auf sich nehmen dürfe; endlich verschaffte der Zufall Clelien den Sieg. Der Diener des Gerichtsvorstandes hatte in der Nacht einen Gensd’armen mit einer Civilperson aus dem Gefängniß kommen sehen und dies seinem aus dem Casino heimkehrenden Herrn mitgetheilt. Dieser kam nun in aller Frühe, sich zu erkundigen, wen der Gensd’arm mitten in der Nacht fortgebracht habe. Da trat Clelia rasch vor und berichtete mit fester Stimme, was sie gethan, aber ohne ihren Gehülfen zu nennen. Der Beamte war starr vor Staunen. Und der erhabene Muth, der aus dem ganzen Wesen der Blinden sprach, ihre wunderbare Schönheit und ihre fast prophetenhafte Verkündigung, daß Gott die Unschuld ihres Flüchtlings eines Tages an das Licht bringen werde — dies Alles wirkte so überwältigend auf den Mann des Gesetzes, daß er kein Wort des Zornes oder der Strenge über seine Lippen brachte, sondern nur eine Aeußerung des Bedauerns, sofort das gesetzliche Verfahren wider Vater und Tothter einleiten zu müssen. Dann forderte er dem ersteren die Schlüssel ab und übergab sie einem herbeigerufenen Officianten. Vater Widerhold war bis auf Weiteres seiner Amtsführung enthoben.

Zur Einkerkerung der beiden neuen Klagfälligen kam es nicht. Vater Widerhold’s Unschuld stellte sich bald heraus und was wollte man dem blinden Kinde thun? Man mochte wohl auch eine leise Ahnung haben, daß dasselbe klarer und richtiger gesehen, als die zum Theil durch vier Augen sehenden Richter. Dennoch wurde Vater Widerhold — hauptsächlich in Folge der Denunciation des Dänen — in Ruhestand versetzt. Das war kein Schlag für ihn; hätte er nur seine und seines Kindes Behaglichkeit im Auge gehabt, so wäre er längst abgegangen und zu seinem Sohne gezogen. Nur das höhere Pflichtgefühl, das Mitleid für die armen Gefangenen hatte ihn so lange auf seinem Posten festgehalten.

Von Rudolf wußte man bereits, daß er glücklich in Drontheim angekommen sei und dort bei einer Epidemie durch aufopferndes und erfolgreiches Wirken schnell die allgemeinste Anerkennung gewonnen habe. Der außer der Sphäre seines Berufes so schüchterne, ja zaghafte Mann hatte sich in ihr als Heros bewiesen. Clelia war namenlos glücklich über diese Nachricht. „Zu ihm! zu ihm!“ das war fortan ihre Losung, und ehe ein Monat nach der Pensionirung ihres Vaters verstrichen war, lichtete das Schiff, das sie dem Ziele ihrer Sehnsucht entgegentrug, die Anker.

Welch ein Wiedersehen war das in dem Hafen der norwegischen Seestadt! Und welche Tage der Wonne folgten ihm nach! Soll die Feder versuchen, ihrer auch nur einen den Lesern zu schildern? Für den, welchen treue Liebe beglückt, ist es überflüssig, und den Andern rathen wir besser: Gehet und liebet! — Jetzt schaut Clelia, Dank der Hand Rudolfs, mit den leiblichen Augen so klar und hell, wie mit den Augen ihres Gemüthes. Die Herrlichkeit Gottes in seiner wundervollen Schöpfung, die ehrwürdige Gestalt des greisen Vaters, das edle Bild des theuern Gatten, die lächelnden Engelsköpfe ihrer Kinder — es ist ihr Alles aufgegangen im heiligen Gotteslichte.

Es verging geraume Zeit, eh’ es den Bemühungen Adolf’s und des Vertheidigers von Rudolf gelang, den wahren Mörder von dessen Tante zu entdecken. Endlich fanden sie seine Spur und halfen den Dienern der Göttin mit den verbundenen Augen darauf. Aber die Spur leitete über das Meer und verlor sich in den Prairien Amerika’s. Indessen gaben die an’s Licht gebrachten Thatsachen dem Vertheidiger Mittel genug an die Hand, den Proceß umzustoßen, und mit Rudolfs Entbindung von der Instanz zugleich die Ausfolgung des reichen Nachlasses der Ermordeten zu bewirken. Es waren inzwischen vier Jahre verflossen — und in dieser Zeit hätte der empfindsame Rudolf im Zuchthause verderben können, wäre er nicht von Clelia’s innerem Auge in Zeiten erkannt und von ihrer Liebe gerettet worden. Ja, die Liebe! —

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_103.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)