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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 10. 1856.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Das lebendig vergrabene Kind.
Vom Verfasser der schwarzen Mare

Es ist ein schweres Amt, das Amt eines Criminalrichters; es ist schwer nach so manchen Seiten hin. Eine der gewöhnlichsten Klagen ist: der Criminalrichter habe es nur mit dem Auswurfe der Menschheit, nur mit der Schlechtigkeit der Gemeinheit der Niederträchtigkeit der Menschen zu thun. Aber darin liegt nicht die schwerste Seite seines Amtes. Ein Advokat in einer großen, reichen Stadt, dem Hauptorte einer großen, reichen Provinz, sagte mir eines Tages: „Sie sind dreißig Jahre lang Criminalrichter gewesen; ich bin seit funfzehn Jahren Advokat. Sie haben meist mit den untersten Ständen der Gesellschaft zu schaffen gehabt; ich hatte meine Geschäfte meist mit den vornehmsten und reichsten Leuten des Landes zu führen. Ich bin dennoch überzeugt, daß ich doppelt so viel Schlechtigkeit, Niederträchtigkeit und Gemeinheit der Menschen kennen gelernt habe, als Sie.“ Der Mann hatte Recht. Ich kam später nur auf sehr kurze Zeit in eine ähnliche Lage, wie die seinige; ich überzeugte mich, daß er Recht gehabt hatte. Es ist gewiß traurig, oft, recht oft – und das muß ja der Criminalrichter häufig – die Schlechtigkeit, die moralische Verkommenheit und Versunkenheit der Menschen zu sehen. Aber noch weit trauriger ist es, war es wenigstens immer für mich, tagtäglich sehen zu müssen, wie die Schwäche den Menschen unglücklich macht; – nicht ihn verdirbt, nicht ihn unempfänglich macht für das Gute, selbst für das Edle; im Gegentheil zwar sein Herz immer offen und warm erhält für alle Eindrücke, die das Gute, das Schöne, das Edle nur je auf das reinste und am zartesten organisirte Herz machen kann, aber dennoch ihn so tief, so völlig äußerlich wie innerlich unglücklich macht. Aeußerlich, indem der arme Verbrecher mit den herrlichsten Anlagen, mit den reichsten Ansprüchen an ein glückliches Leben entweder für sein ganzes Leben dem Elende und der Verachtung, oder gar dem schmachvollen Tode durch Henkershand sich überantwortet hat. Innerlich, indem er sich selbst sagen muß, daß er das äußerliche Unglück, das ihm wird, verdient hat, daß ihm, mit allen jenen Anlagen und Ansprüchen, durch das Elend und die Verachtung nur sein Recht ward. Nicht auch durch seinen Tod von Henkers Hand. Gerade der edlen, der bessere Mensch hat am meisten die Ueberzeugung, daß die Todesstrafe gegenwärtig keine gerechte Strafe mehr, daß sie nur noch eine Grausamkeit ist, wie Tortur und Hexenverfolgungen jetzt allgemein für Grausamkeit anerkannt werden. Daß er den Tod als Strafe verdient habe, das wird, das kann sich kein Verbrecher sagen, auch der aufrichtigste, der reuevollste nicht.

Und so hat der gebildete, der fühlende und denkende Criminalrichter schon längst die Ueberzeugung gewonnen, daß die Todesstrafe als eine der Gerechtigkeit entsprechende Strafe nicht mehr anerkannt werden kann. Und das trifft gewiß auch auf eine der schweren Seiten des Amtes des Criminalrichters

Noch vor wenigen Jahren lebte in Berlin der Stadtgerichtsrath B., ein alter Beamter mit mancherlei Eigenheiten und manchen Schwächen. Zu seinen Eigenheiten vielleicht gehörte eine unüberwindliche Scheu, für ein Todesurtheil zu stimmen; jedenfalls zu seinen Eigenheitem freilich auch zu seinen Schwächen, zählte man die Art und Weise, wie er sich, wenn es in dem Collegium sich um ein Todes-Urtheil handelte, seiner Pflicht des Abstimmens zu entziehen suchte. Mit „nein“ hätte er wohl nur selten abstimmen können; denn bei dem Stadtgerichte zu Berlin wurde damals namentlich in Criminalsachen mit einer solchen Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit gearbeitet, daß, wenn ein Referent sich für ein Todesurtheil aussprach, nach den Gesetzen schwerlich eine Einwendung dagegen zu heben war. Einzig und allein auf die Gesetze aber kam es an; die Stimme der Menschlichkeit, die Stimme einer andern Gerechtigkeit, als die der Gesetze, konnte, durfte sich dagegen nicht hören lassen· Hätte nun der Rath B. mit einem „nein“ stimmen wollen, so hätte er dafür seine Gründe und zwar gesetzliche Gründe angeben müssen, und das hätte er nicht gekonnt. Aus der Sitzung fortbleiben konnte er auch nicht, denn der Präsident des Stadtgerichts war ein eigener Mann, der, namentlich wenn es sich um wichtige Sachen handelte, seinen Collegen vorher keine Mittheilung von dem Tage der Verhandlung machte, sondern die Sache erst in der schon eröffneten Gerichtssitzung verlegte. Dem Stadtgerichtsrath B. blieb daher, wenn er an einem Todesurtheile sich nicht betheiligen wollte, nur übrig, mit guter Manier die Sitzung wieder zu verlassen. Das gelang ihm auch in der ersten Zeit. Der Präsident bemerkte aber bald die Absichtlichkeit solchen Entfernens, und nun gelang es ihm nicht mehr. Er suchte immer unter neuen Vorwänden zu entkommen; der Präsident wußte jedem neuen Vorwande zu begegnen. Zuletzt gelang ihm ein Manöver. Während die sämmtlichen Mitglieder des Gerichts mit der größten, gespanntesten Aufmerksamkeit dem Vortrage der Sache zuhörten, hatte der Rath B. auf einmal die Gelegenheit wahrgenommen, unbemerkt unter den großen und breiten, mit dem tief herabhängenden grünen Tuche bedeckten Sessionstisch zu schlüpfem Dort saß er still und unbeweglich. Sein Verschwinden wurde erst bemerkt, als nach Beendigung des Vortrags und der Debatte der Präsident jedes Mitglied einzeln abstimmen ließ.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_125.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)