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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Wo ist College B.?“ fragte der Präsident. Niemand wußte es; man glaubte, er müsse während der Hitze der allgemeinen Debatte das Zimmer verlassen haben. Glücklich hatte er sich dem Abstimmen entzogen. Er kroch unter dem grünen Tische hervor, als Alle fort waren, und freute sich königlich. Aber der Präsident ärgerte sich, und er schwor, das solle ihm nicht wieder passiren, und doch kam es ihm bei dem nächsten Todesurtheile wieder vor. Die Richter waren damals überall noch zu sehr Juristen, als daß sie gute Aufpasser hätten sein können. Beim dritten Male indeß sahen die wachsamen Augen des Präsidenten das plötzliche Verschwinden des Rathes. Er sagte nichts. Als er jedoch nach Beendigung der Debatte abstimmen ließ und die Reihe an den alten Rath kam, hob er ruhig die grüne Tischdecke auf und rief unter den Tisch:

„Herr College B., Ihr Votum!“

Der erschrockene Rath fuhr in die Höhe.

„Ach, ach, ich hatte meine Feder verloren,“ jammerte er in kläglicher Entschuldigung.

„Suchen Sie sie nachher. Ihr Votum!“

Das Todesurtheil wurde unter einem unaufhaltsamen Gelächter beschlossen.

„College B., Ihr Votum!“ das ist zu einem Sprüchwort geworden für jeden Rath, Assessor und Referendarius beim Stadtgerichte zu Berlin, und keiner kann sich dabei des Lachens erwehren.

Die Sache mag auch lächerlich gewesen sein, aber es ist eine traurige Geschichte, diese Anekdote. Traurig, daß Richtercollegien, selbst die ersten, die gewissenhaftesten, unter Lachen ein Todesurtheil beschließen können; noch trauriger, daß überhaupt Richtercollegien noch Todesurtheile beschließen müssen.

Und auch dies ist nur eine einzelne Seite der ganzen verkehrten und darum unglücklichen Stellung, in welcher der Criminalrichter sich befindet. In dieser steht er aber dem geschriebenen Gesetze gegenüber. Das wahre Recht ist das Recht des einzelnen Falles, nicht das Recht des Gesetzes; beide sind in einem ewigen, offenen Kampfe mit einander. Der Richter sucht vergeblich zu vermitteln, aber nur der fühlende und denkende, der andere hält sich nur an das Gesetz. Das Gesetz verbietet ihm sogar die Vermittelung: er soll seiner abstrakten Regel folgen, seiner todten Schablone, anstatt dem lebendigen Rechte des Falles. Daß ihm das vorgeschrieben ist, weiß auch der bessere Richter, und daß er es weiß, trägt nicht wenig dazu bei, ihm die Schwere seines Amtes recht fühlbar zu machen.

Doppelt schwer fühlt er es, wenn er sein Amt auszuüben hat einem jener unglücklichen Menschengeschöpfe gegenüber, die durch ihre Schwäche zu einem großen Verbrechen sich hinreißen ließen, durch das sie ihr ganzes Dasein zu einem verfehlten machten, ihr Lebensglück völlig und für immer vernichteten.

Kant sagt, man solle in den Collegien nicht nach der Majorität, sondern nach der Minorität die Beschlüsse fassen, da eben überall die Minderzahl der Menschen mit besonderen Gaben des Geistes versehen seien und diese ausgebildet hätten. Dieser Grund mag richtig sein, jene Folgerung daraus ist aber unrichtig. Die vis inertiae ersetzt auch in den Collegien Talent und Ausbildung: die ordinäre Menge folgt gern der Autorität der Ausgezeichneten. Aber etwas Anderes habe ich in meiner langjährigen richterlichen Laufbahn erfahren: die bei weitem größere Anzahl der Richter ist so von dem Geiste der Bureaukratie inficirt, daß ihnen klares Denken und richtiges Fühlen immer mehr und mehr abhanden gekommen und zuletzt ganz und gar unmöglich geworden ist. Solche Richter denke man sieh in jenem schweren Amte. Ihnen gegenüber denke man sich jene unglücklichen Geschöpfe, die nicht aus Schlechtigkeit, die nur aus Schwäche zu Verbrechern wurden. Die Strafgerechtigkeit wird unter ihren Händen zu einem Glücksspiele; einmal wird das wahre Recht getroffen, zehnmal fliegt die blinde entscheidende Kugel daran vorbei, und nur zu oft fehlt die weiße Kugel der Minerva.

Im März des Jahres 1835 wurde von dem Justizamte Heidekrug eine Frau an die Kreisjustiz-Commission zu Ragnit eingeliefert, deren Dirigent ich damals war. Es war eine große, wohlgebaute Person, mit einem im Ganzen ausdruckslosen, aber doch gutmüthigen und sanften, und nichts weniger als unangenehmen Gesichte. Sie war außerordentlich blaß; ihre großen, blauen, etwas matten Augen hatten einen ängstlichen Blick.

In dem Begleitschreiben, das der transportirende Gensd’arm übergab, stand, daß sie Mare (Maria) Müller heiße, dreiundzwanzig Jahre alt und unverheirathet sei, und ihr drei Wochen altes Kind am 11. desselben Monats lebendig vergraben habe.

Dies war ihr Verbrechen.

Und wie war dies gräßliche Verbrechen entstanden? Wie konnte das junge litthauische Mädchen mit dem sanften, gutmüthigen Gesichte zu einer so entsetzlichen Verbrecherin herabsinken?

Folge der Leser mir in eine armselige litthauische Hütte. Nicht weit von dem Dorfe Heidekrug, in dem landräthlichen Kreise gleichen Namens, liegt ein kleines litthauisches Dorf, Trokseden.- Das Dorf ist nur von litthauischen Bauern bewohnt, und die meisten dieser Bauern sind arm. Das Land ist dort unfruchtbares oder wenig ergiebiges Heideland, und die Bewohner sind dennoch für ihren Erwerb meist aus die Bebauung des Landes angewiesen.

Neben einem der Bauernhäuser dieses Dorfes befand sich, halb angebaut, eine kleine Hütte. Das Bauernhaus gehörte zu den ältesten und verfallensten des Dorfes. Die kleine Hütte bestand aus einem einzigen, ziemlich engen Raume, wie die sogenannten Flachspirten jener Gegend. Sie diente zum Aufbewahren von Haus- und Flachsvorräthen; im Sommer wurde Hanf und Flachs darin gebrochen. Am 18. Februar 1835 war sie die Wochenstube für Mare Müller geworden.

Mare Müller, oder Milleris, wie sie von den Litthauern genannt wurde, war nicht aus Preußisch-Litthauen gebürtig, sondern aus Szamaiten, und zwar aus dem, etwa eine halbe Meile von der preußischen Grenze entlegenen Städtchen Russisch-Neustadt oder Nowemiasto. Dort lebte nur noch ihre Mutter in großer Armuth, und Mare Müller hatte deshalb schon von früher Jugend an bei fremden Leuten als Magd dienen müssen. Seit fünf Jahren hatte sie Rußland verlassen und bei Bauern in dem an Rußland angrenzenden Kreise Heidekrug gedient. Seit etwa zwei Jahren diente sie in dem Dorfe Trokseden und zwar bei einer und derselben Herrschaft, einem Bauern, der zu den ärmsten des Dorfes zählte.

Mit ihr diente in demselben Hause ein Knecht, Namens Martin Jurrot.

Martin Jurrot war eine Waise aus einem Dorfe in der Gegend von Ruß am Memel- (eigentlich Ruß)- Strome und in gleichem Alter mit Mare Müller; auch sonst ein hübscher Bursch, wie sie ein hübsches Mädchen. Er war brav und gutmüthig wie sie, und er der einzige Knecht, sie die einzige Magd in dem Hause. Beide waren arm. Er hatte wie sie gar keine Verwandte und Angehörige in Preußen. In den fünf Jahren, die sie sich in Preußen aufhielt, war sie kein einziges Mal nach Rußland gekommen, hatte kein einziges Mal ihre Mutter sie besucht, und weitere Angehörige als ihre Mutter hatte sie auch nicht.

Es war unter den mitgetheilten Umständen kein Wunder, wenn zwischen Martin Jurrot und Mare Müller ein inniges Verhältniß entstand, und leider wurde es nur ein zu inniges.

Am 18. Februar 1835 genaß Mare Müller eines gesunden Mädchens.

Sie hatte ihrer Herrschaft immer treu und redlich gedient.

Es war in dem Hause noch keine bessere und unverdrossenere Arbeiterin gewesen. Martin Jurrot versprach, sie zu heirathen.

Ihre Dienstfrau war eine sehr mitleidige Frau. Mare Müller wurde daher nicht aus dem Hause gejagt, ihre Dienstfrau richtete vielmehr jene Flachspirte für sie ein, und bereitete dort aus Hanf und Flachs ein möglich weiches und warmes Lager für sie und ihr Kind. Auf ein Bette kann ein Dienstbote in jenen ärmeren Gegenden Litthauens keinen Anspruch machen, und an einen Ofen oder Feuerherd war in der engen, nur aus Holz zusammengefugten Hütte nicht zu denken.

Nur ihre Dienstfrau war mitleidig, ihr Dienstherr dagegen ein geiziger und hartherziger Mann. Er hatte sie ohne alle Barmherzigkeit aus dem Hause werfen wollen und nur den inständigsten Bitten seiner Frau hatte er augenblicklich nachgegeben, und auch nur unter Bedingungen. Martin Jurrot nämlich sollte die Mare heirathen, und Beide dann eine Zeit lang ohne Lohn bei ihm dienen. Dafür solle sie mit ihrem Kinde drei Wochen unentgeltlichen Aufenthalt im Hause haben.

Martin Jurrot mußte zu diesem Zwecke sofort nach der Entbindung Mare’s sich in seine Heimath begeben, um die zur Heirath erforderlichen Papiere herbeizuschaffen. Spätestens am 11. März,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_126.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)