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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

dem Jahrmarktstage in Heidekrug, sollte er zurückkehren, und dann Alles so weit vorbereitet sein, daß die Verkündigung des Paares von der Kanzel in Werden, dem benachbarten Kirchdorfe, und später die Trauung erfolgen könne.

An das daraus entstehende Hinderniß, daß Mare Müller eine Ausländerin war, hatte man nicht gedacht, auch der Dorfschulze nicht, den man zu Rath gezogen hatte, und der doch für einen Mann galt, der sehr klug sei, weil er sehr klug sprechen konnte.

Martin Jurrot war in seine Heimath abgereiset und das Kind war am nächsten Sonntage in der Kirche zu Werden getauft worden. Die Dienstfrau Mare’s hatte Pathin gestanden. Das Kind gedieh und wurde mit jedem Tage sichtlich kräftiger. Es war ein hübsches Kind und die Mutter liebte es leidenschaftlich.

Mare Müller hatte sich von ihrer Entbindung nicht recht erholen können, sie hatte bis unmittelbar vor derselben die schwersten, anstrengendsten Arbeiten verrichtet und nach derselben keine Pflege gehabt. Der hartherzige Geiz des Hausherrn ließ ihr nur magere Kost zukommen, und die Armuth der mitleidigen Hausfrau gab es nur selten zu, der Kranken eine bessere, nahrhaftere Speise verstohlen verabreichen zu können. Desto mehr zehrte das kräftige Kind an der Brust der Mutter die schwachen Kräfte derselben auf. Dazu kam der strenge Winter des Jahres 1834 auf 1835, gegen dessen herbe Kälte die dünnen Holzwände der leicht gebauten Pirte, trotz der Verstopfung der Lücken mit Hanf und Werg, keinen hinreichenden Schutz gewähren konnten.

Mare Müller war von Tage zu Tage schwächer geworden, und arbeiten konnte sie gar nicht; sie konnte sich nur mühsam von ihrem Lager erheben.

So war der zehnte März herangekommen, und mit ihm seine Mittagszeit.

Mare Müller war in der Flachspirte mit ihrem Kinde. Sie lag auf ihrem Lager, das aus zusammengeschüttetem Stroh und Heu bestand; damit dieses mehr Wärme, waren zur Seite, zu den Füßen und nach dem Kopfende hin Bündel von Hanf und Flachs gelegt. Bedeckt war die Kranke mit einem alten, zerrissenen Schafpelze und neben ihr auf demselben Lager lag ihr Kind. Es war in alte zum Theil zerlumpte leinene Windeln eingewickelt und um dieselben eine gleichfalls alte, zerlumpte Marginee (litthauischer Frauenrock) gewunden. Es herrschte an dem Tage eine strenge Kälte; sie war auch in die Pirte gedrungen. Man sah bei jedem Athemzuge der Kranken deutlich ihren Athem in der kalten Luft; man konnte meinen, er friere sofort vor ihren Lippen zusammen; und es war doch ein heißer, glühender Athem, der aus der Brust der Kranken sich entwickelte. Um das Kind desto mehr gegen die Kälte zu schützen, hatte die Mutter es dicht an sich gelegt, und mit ihrem Arme umfangen.

Mare Müller lag angekleidet auf ihrem Lager; die Kälte, die in der Pirte herrschte, zwang sie dazu. Ihre Bekleidung war eine ärmliche. Man sah eine grau- und grüngestreifte, schon ziemlich abgetragene Marginee, ein Wamms von grobem grauen Zeuge, und darunter sogleich das Hemd von grober Leinwand. Ein Busentuch besaß sie nicht. Vielleicht hatte sie es zu dem Kopfverbande verwendet, mit welchem sie ihr Haupthaar verbergen mußte.

Frauen und gefallene Mädchen dürfen dieses in Litthauen nicht mehr sehen lassen. Ein Mädchenverführer heißt daher in der bilderreichen Sprache des Volkes ein „Kopfverbinder.“

Nicht einmal eine Schürze, dieses nothwendigste Putzstück der Litthauerin, besaß Mare Müller mehr. Für Wochenbett und Taufe des Kindes hatte sie Alles verwendet, was sie außer der allerentbehrlichsten Kleidung besaß.

Mare Müller war mit ihrem Kinde allein in der Pirte und das Kind schlief in ihrem Arm. Sie wachte; sie sah auf das schlafende Kind, mit schmerzlichem Nachdenken in dem abgemagerten, bleichen Gesichte.

Es war der letzte Tag der Frist, die ihr der Hausherr für ihr Bleiben im Hause gesetzt hatte, und noch war ihr Bräutigam nicht zurück; noch hatte sie in der ganzen Zeit seiner nun schon über vierzehn Tage dauernden Abwesenheit gar nichts von ihm vernommen. Hatten seine Bemühungen einen Erfolg gehabt, oder nicht? Er war noch minderjährig, er war erst dreiundzwanzig Jahre alt. Als Minderjähriger konnte er nicht heirathen ohne Einwilligung seines Vormundes und des vormundschaftlichen Gerichts, und das hatte der Pfarrer von Werden ihm auch bestimmt und deutlich erklärt und aus dem Allgemeinen Landrecht nachgewiesen. Um diese Einwilligung nun zu erhalten, war er in seine Heimath verreiset. Hatte er sie erhalten? Es mußte schon entschieden sein, wenn es noch von Nutzen sein sollte. Kam Martin Jurrot nicht heute oder spätestens bis morgen Mittag mit den Papieren zurück, so war es zu spät; ihr Dienstherr hatte geschworen, daß er sie und ihr Kind dann keine Minute länger in seinem Hause dulden werde.

Nur noch die kurze Frist von vier und zwanzig Stunden hatte sie vor sich, und noch war keine einzige Nachricht von Martin Jurrot da. Wohin sollte sie mit ihrem kranken Körper, mit dem hülflosen Kinde, wenn die Frist ohne Erfolg verstrich? Was sollte aus ihnen Beiden werden? Aus dem Hause ihrer Herrschaft geworfen, wußte sie keinen einzigen Zufluchtsort mehr. Ihre Mutter? Die alte Frau hatte ja selbst nichts, und sie war ja auch seit fünf Jahren nicht in ihrer Heimath gewesen und hatte auch in dieser ganzen Zeit keine Nachricht aus der Heimath erhalten. Sie wußte nicht einmal, ob ihre Mutter noch am Leben sei.

In den niederen, ärmeren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft findet man Aehnliches oft. Die Kinder haben das elterliche Haus verlassen und nun hören Eltern, Kinder und Geschwister Jahre, Jahrzehnte, oft ihr ganzes Leben lang nichts weiter von einander, und dennoch leben sie oft nur wenige Meilen weit entfernt. Es ist wie mit den Vögeln, die ihr Nest verlassen haben. Noch wenige Tage füttern die Alten die Jungen und lehren sie fliegen und sich ihre Nahrung selbst suchen; dann bekümmern die Alten sich nicht mehr um die Jungen, und die Jungen nicht mehr um die Alten. Sie finden und kennen sich niemals wieder.

Doch ist ein Unterschied da. In den höheren, vornehmerem reicheren, den sogenannten gebildeten Klassen der Gesellschaft verkennt man ihn, und man spricht daher das Verdammungsurtheil der Gefühllosigkeit, des Stumpfsinnes oder der Rohheit über jenes niedrig stehende Volk aus, das Vater und Mutter, Tochter und Sohn, Bruder und Schwester vergessen kann. Vergessen? Jene Vögel vergessen, aber jene armen Menschen vergessen nicht; sie tragen die tiefe, innige Sehnsucht im Herzen, nur einmal einander wieder zu sehen, Eltern, Kinder, Geschwister, und wenn sie sich nicht sehen können, nur ein paar Worte Einer von dem Andern zu hören, wie es dem Kinde in dem fremden Lande ergeht, was die alten Eltern in der lieben Heimath machen, ob die Geschwister auch noch wohl an Einen denken; aber sie können nicht Geschriebenes lesen und nicht schreiben; sie haben oft nicht einmal so viel Geld, um sich einen Brief durch einen Dritten schreiben zu lassen und das Porto dafür zu bezahlen; zum Reisen fehlt es ihnen erst recht an Mitteln, und daß ein Bekannter von dem einen Orte zu dem anderen ginge und Grüße und Nachrichten hin und her brächte, das trifft sich so selten. So leben und sterben und verderben sie, ohne jemals etwas wieder von einander zuhören. Sie sind verdammt dazu, die Armen!

Mare Müller wurde in ihren traurigen Gedanken gestört.

Die Thür des Haupthauses, neben welchem die Pirte lag, wurde geöffnet, und gleich darauf wurde ein Gespräch zweier Personen laut.

„Was trägst Du da?“ fragte eine rauhe, harte Mannsstimme. Es war die Stimme des Hausherrn.

„Ich bringe der Mare ihr Mittagsbrot,“ antwortete eine Frauenstimme. Die Antwortende war die Hausfrau.

„Laß sehen,“ befahl der Mann.

Die Frau hatte ihm zeigen müssen, was sie trug, Gleich darauf rief der Mann mit polternder, zankender Stimme:

„Weib, Willst Du mich zum Bettler machen um der Betteldirne willen? Warmbier? Mit Zucker gekocht?“

„Nur mit Syrup,“ unterbrach entschuldigend die Frau.

„Gleichviel, Hafersuppe und Brot sind schon zu viel für die faule Person, die nun bereits seit drei Wochen nichts gethan hat.“

„Sie ist krank!“ entschuldigte wieder die Frau.

„Trag’ das Essen zurück.“

„Es ist doch nun einmal gekocht.“

„Zum Teufel, die Dirne soll nichts Besseres haben als ich.“

Mare Müller hörte einen Schlag, einen Fall, ein Klirren von Scherben. Sie richtete sich ängstlich weiter horchend auf.

Der Mann hatte der Frau den Napf mit der Biersuppe für die Kranke aus der Hand geschlagen, den Napf dadurch zerbrochen, und die Suppe floß auf die Erde.

Mare Müller war bleicher geworden; sie zitterte, sie weinte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_127.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)