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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Sie richtete sich von ihrem Lager auf; sie hatte keine Thränen und keinen Schweiß zu trocknen; ihre Augen brannten, ihr blasses Gesicht glühete, ihre Lippen zogen sich verdorrt zusammen.

Sie stand auf von ihrem Lager, zog die Marginne fester um ihren Leib, knöpfte das graue Wamms von oben bis unten zu, zog an ihre Füße ein paar Bastschuhe, die hinter ihrem Lager standen, und machte sich so fertig zu ihrer Abreise. Noch einmal blickte sie in der Hütte umher, ob sie noch etwas mitzunehmen habe. Ihre Dienstfrau aber hatte Recht gehabt, sie hatte nichts zu packen, es war nichts mehr da, was ihr gehörte; auch der alte Pelz, der ihr zur Decke gedient hatte, war nicht ihr Eigenthum, ihr blieb nichts als – ihr Kind.

Sie hob das Kind auf; es schlief; sie wickelte es fester und tiefer in die alte Marginne, in die es eingehüllt war. So nahm sie es in ihren Arm, und verließ mit ihm die Hütte, den Hof, das Dorf; sie ging still, ohne sich umzusehen. Es war ein kalter, rauher Wintertag, und der ganze Himmel war mit dichten Schneewolken überzogen. In Ragnit hatte damals, wie später ermittelt wurde, der Thermometer acht Grad Kälte nach Réaumur gezeigt, und da mochte es wohl in den Pirten des Kreises Heidekrug wahrscheinlich noch kälter gewesen sein. Unter dem fünfundfunfzigsten Grade der nördlichen Breite, zumal in jenem Osten an der russischen Grenze, pflegt auch im März der Winter noch sehr kalt aufzutreten.

Mare Müller zog der russischen Grenze zu, denn wo sollte sie anders bleiben, als in der Heimath! In Preußen kannte sie Niemanden weiter, als ihre Herrschaft, von der sie nun verstoßen war. Seit zwei Jahren hatte sie von ihren frühern Dienstherrschaften nichts mehr gehört; sie war, als Szamaitin, bei ihnen überall nur kurze Zeit im Dienste gewesen und hatte sie sämmtlich insoweit kennen gelernt, um überzeugt zu sein, daß sie, zumal mit ihrem Kinde, bei keiner ein Unterkommen finden werde. Und nun hatte sie heute auch von mehreren Seiten vernommen, daß sie in Preußen nicht ferner geduldet werden dürfe. Vertraute sie sich wieder Jemandem an, so hatte sie zu befürchten, mit Gensd’armerie über die Grenze transportirt zu werden; dann wäre sie den Grenzkosaken übergeben worden, und Mißhandlung, Plünderung bis auf ihr Hemd, und zuletzt Gefängniß standen ihr in sicherster Aussicht.

Sie war auch in der Heimath fremd, und dazu ihre Mutter arm; ja sie wußte nicht einmal, ob dieselbe noch am Leben war. Andere Verwandte hatte sie in Rußland nicht. Sonach war auch dort nur wenige, fast gar keine Aussicht, ein Unterkommen für sie und ihr Kind ausfindig zu machen. Doch wohin sollte sie? Es blieb ihr keine Wahl; keine andere als zwischen Rückkehr in die Heimath mit oder ohne Gensd’armen, mit oder ohne Mißhandlung und Plünderung und Gefängniß. Sie nahm den Weg nach der Heimath.

Es war etwa ein Uhr Mittags, als sie das Dorf Trokseden verließ. Nicht weit von dem Dorfe kam sie auf die große Landstraße, die von Heidekrug zur russischen Grenze nach Russisch-Neustadt führt. Die Grenze ist von Trockseden über anderthalb Meilen entfernt und eine kleine halbe Meile jenseits der Grenze liegt Russisch-Neustadt.

Mare Müller ging langsamen, aber festen Schrittes; ihre innere Aufregung schien den kranken Körper wunderbar gestärkt zu haben; selbst die große Kälte, in der sie ging, schien sie nicht zu fühlen.

Ihr Kind hatte sie vollständig in die alte Marginne eingewickelt, und nur eine kleine Oeffnung zum Athemholen gelassen; die Oeffnung selbst hatte sie nach ihrer wärmenden Brust zugekehrt.

Die Landstraße führte sie an mehreren Dörfern vorbei. Zweimal war sie in Bauernhäusern eingekehrt, um darin bei behaglicher Wärme dem Kinde die Brust zu reichen. Sie konnte später die Dörfer nicht benennen und die Häuser nicht bezeichnen. Man hatte die kranke, blasse Frau mit dem Säugling mitleidig aufgenommen, ihr auch Essen und Trinken gegeben; Quartier hatte man ihr aber nicht angeboten, weil sie um keins gebeten.

So war der Abend herangekommen, als sie in der Nähe des preußischen Dorfes Kullerspiszken die russische Grenze erreichte.

An der großen Landstraße befindet sich dort auf der Grenze ein russisches Grenzzollhaus. Von den russischen Grenzbeamten wird Niemand in das Land hineingelassen, außer wer sich durch hinreichende Papiere zu legitimiren vermag. Mare Müller wußte das, wie es in jenen Gegenden fast jedes Kind weiß. Sie verließ die Landstraße und ging seitab in ein Fichtengebüsch, von wo sie sich vorsichtig unmittelbar der Grenze nahete, die sie auch unbemerkt erreichte. Die russische Grenze wird durch einen Graben bezeichnet, hinter dem, schon auf russischem Gebiete, sich ein hoher breiter Wall befindet. Auf dem Wall patrouilliren zur Bewachung der Grenze beständig Grenzkosaken zu Pferde auf und ab. Mare Müller wartete daher, bis der Wall frei war, wo sie dann glücklich durch den zugefrorenen Graben über den Grenzwall gelangte, und so ihr Heimathland betrat.

Sie suchte bald wieder die Landstraße auf, und ging nun unbehindert auf dieser nach dem Städtchen Russisch-Neustadt.

Es herrschte völlige Dunkelheit in den engen schmutzigen Gassen des Städtchens, das meist nur von armen Ackerbürgern und armen mitunter allerdings auch reichen Handelsjuden bewohnt wird.

Mare Müller kannte die Straßen in der Dunkelheit alle noch, denn sie hatte ja hier bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahre gelebt. Kein Haus, kein Fenster war ihr unbekannt; jeden Stein, auf den ihr Fuß trat, hatte sie schon früher betreten, wer weiß, wie oft. In einem solchen kleinen, von dem großen Verkehr abgelegenen Landstädtchen ändert das Aeußere sich oft in funfzig, in hundert Jahren nicht, geschweige in fünf Jahren. Alles weckte in ihr die traurigen Erinnerungen an ihre Jugend, an ihre Kindheit wieder auf, sie hatte von früh auf nur mit dem Elende kämpfen müssen, war von ihrer Kindheit an schwerer, harter Arbeit bestimmt gewesen. Das war der geringe und doch so inhaltvolle Verlauf ihrer Jugenderinnerungen; und doch hing ihr Herz daran, an allen jenen Entbehrungen und Mühen. Sie hatte die Heimath verlassen müssen, weil die Mutter kein Brot mehr für sie hatte, und weil sie in dem armen Städtchen keine Gelegenheit mehr fand, ihren Lebensunterhalt zu verdienen; war nicht mit frohen, lachenden Aussichten in die Fremde gegangen, sondern nur mit der Hoffnung, sich satt essen zu können für schwere, saure Tagesarbeit, die sie in der Heimath nicht fand. Das Loos der Armen ist ein trauriges und man kann es nicht genug wiederholen, wie bedauerungswürdig sie ein ganzes Leben unter Kummer und Sorge dahin wandeln müssen.

Und wie kam jetzt unsere Mare zurück. Ihre Hoffnung, jene geringe menschliche Hoffnung auf ein Stück Brot für saure Arbeit, war zerstört; sie fand auch in der Fremde kein Brot mehr, und kehrte jetzt zurück an den Ort, wo sie keins hatte finden können.

Und nicht für sich allein fand sie nichts mehr; noch ein zweites Wesen hungerte mit ihr, ging mit ihr zu Grunde, wenn sie nichts fand, und das war ihr eignes Fleisch und Blut.

Sie ging leise und still durch die dunklen einsamen Gassen des Städtchens, denn Niemand begegnete ihr. So gelangte sie am Ende desselben in jener schmutzigeren Gegend an, wo die ärmsten Juden des Orts wohnen, an ein krummes, enges Gäßchen. Hier wohnte ja ihre Mutter, hier hatte diese wenigstens vor fünf Jahren gewohnt. Und es entstand nun in ihr die Frage: wohnt diese noch dort? War sie überhaupt noch am Leben? Und wenn, in welcher Lage, in welchem Zustande befand sich diese arme, alte Frau?

Als Mare Müller vor fünf Jahren Nowemiasto verließ, hatte ihre damals schon betagte Mutter, zu anderen schweren Arbeiten nicht mehr fähig, sich nur dadurch kümmerlich das Leben fristen können, daß sie des Sonnabends bei einigen Juden des Städtchens häusliche Dienste verrichtete. Sie war so nur bei wenigen, und nur bei den ärmeren Juden beschäftigt gewesen, die sich nicht für beständig christliche Dienstboten halten konnten. Somit hatte die alte Frau nur einen spärlichen Verdienst gehabt, und war meist mit den Ueberbleibseln der Mahlzeit der Juden bezahlt worden; dazu erhielt sie etwas trockenes Brot und ein paar Kopeken, um Schnaps zu kaufen, ein Gegenstand, der schon früh für diese Frau ein unentbehrliches Lebensmittel geworden war. Armuth, Elend, jene Beschäftigung, und die rohe, übermüthige Behandlung, mit der die Juden sich an der armen, elenden, christlichen Sabbatsdienerin rächten, dazu der gemeine Geist des Schnapses, hatten die Frau gemein gemacht.

Was hatte also die arme, elende Tochter mit ihrem Kinde zu erwarten, wenn sie die Mutter noch lebend fand? Und wohin sollte sie, wenn die alte Frau todt war? Noch weniger als in Preußen, kannte sie in der russischen Stadt nicht einen einzigen Menschen, dem sie sich hätte anvertrauen, von dem sie Aufnahme und Hülfe hätte erwarten können. Die Straßen, die Häuser waren ihr nicht fremd geworden; den Menschen war sie, sie war ihnen fremd.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_142.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)