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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

In der dunklen Gasse war es leer und todt; es begegnete ihr Niemand, an den sie sich mit einer Frage nach ihrer Mutter hätte wenden können, und so ging sie auf das Haus zu, in welchem sie vor fünf Jahren von der Mutter sich getrennt hatte. Es war kein Haus zu nennen, nur eine elende, von altem baufälligem Holz zusammengefugte Hütte. In dieser Hütte hatte ihre Mutter einen kleinen, dunklen Raum, keine Stube, aber ein Loch, bewohnt, zu ebener Erde, halb in der Erde gelegen, mit Wänden blos von zusammengelegten Holzbohlen, mit einem Estrich von feuchtem Lehm, mit einem schmalen niedrigen Fenster von sechs kleinen trüben Scheiben, von denen mehr als die Hälfte zerbrochen und mit Papier verklebt war.

Mare Müller erreichte das Haus; sie erreichte es mit ängstlich klopfendem Herzen, und blieb an dem kleinen schmalen Fenster stehen. Das Fenster war dunkel, in dem Raume, zu dem es gehörte, war kein Licht; sie horchte an demselben; keine Bewegung darin war bemerkbar. Ihr Herz klopfte stärker, sie zitterte heftig, drückte das Kind fester an sich, um ihre Kräfte mehr zusammenzunehmen, dem Zittern ihres Körpers mehr zu wehren.

So trat sie in die Hütte, kam in einen engen dunklen Eingang, wo ihr noch Alles heimisch bekannt war; sie fand sich zurecht trotz der völligen Dunkelheit. Mare trat zu der Thür der Wohnung ihrer Mutter; dieselbe war, wie sie wußte, nur einzuklinken; sie fand die Klinke, öffnete die Thür, und trat in einen Raum, der vollkommen eben so dunkel war, als der Eingang, aus dem sie trat.

Aus einer Ecke des Raumes ertönte eine Stimme.

„Wer ist da?“

Mare Müller erkannte die Stimme ihrer Mutter.

„Ich bin da, Mutter, die Mare.“

„Bringst Du Geld mit?“

„Nein, Mutter!“

„Was willst Du denn da hier?“

Das war der Empfang der Tochter in dem Mutterhause nach fünfjähriger Trennung.

Mare Müller konnte sich nicht mehr aufrecht halten; sie suchte und fand im Dunklen eine alte zerbrochene Bank noch auf ihrer alten Stelle. Sofort ließ sie sich darauf nieder, und während sie sich setzte, erwachte ihr Kind, welches auch sofort schrie.

„Du hast ein Kind mitgebracht?“ rief zornig und höhnend die alte Frau. „Darum bist Du gekommen?“

Die Stimme der Mutter kam noch immer aus der Ecke des dunklen Loches, noch immer hatte sie sich nicht vom Platze gerührt, auch jetzt blieb sie in derselben Situation. In dem Raume war es kalt, die alte Frau lag in ihrem Bette, um sich da gegen die Kälte zu schützen; in ihrem Bette, wenn man ein Lager von roh zusammengeflickten, und wieder tausendfach zerrissenen Lumpen ein Bette nennen kann.

„Und was willst Du hier mit dem Kinde?“ wiederholte höhnischer ihre Mutter.

Mare Müller erzählte in gedrängter Kürze ihre Geschichte, ihr Unglück, ihr, Elend.

Sie fand kein Wort des Mitleids, des Trostes, der Aufrichtung; anstatt all´ diesem nur neuen Hohn.

„Wo Du das Kind geholt hast, da kannst Du es wieder hinbringen.“

Sie bat die Mutter, ihr etwas zu essen zu geben.

„Essen? Ich habe kein Stück Brot im Hause.“

Es war auch in der That so, denn die alte Frau lebte noch in ihrer früheren Lage; sie ernährte sich noch immer als Sabbatsdienerin bei den ärmern Juden; sie fristete womöglich noch kümmerlicher das Leben als früher, denn sie war älter und schwächer geworden, und konnte nur wenig schaffen, wurde daher auch schlechter behandelt und kärglicher besoldet. Ihre Leidenschaft für den Schnaps hatte zugenommen; sie lebte mehr von diesem als von Brot. Schnaps hatte sie im Hause, aber kein Brot.

Mare Müller hatte noch einige Brotkrusten aufbewahrt, die sie von den mitleidigen Leuten auf ihrem Wege erhalten hatte und damit stillte sie ihren Hunger, wenn auch nur kaum zur Hälfte. Nahrung für das Kind konnte sie der vertrockneten Brust dadurch nicht verschaffen.

Ihre Mutter bekümmerte sich nicht weiter um sie, vielmehr schlief das alte Weib bald ein, gefühllos, halb berauscht.

Mare Müller war mit ihrem Kinde sich selbst überlassen. Das hungrige Kind schrie, und die Unglückliche hatte nichts, seinen Hunger, sein Schreien zu stillen, was die ganze Nacht hindurch währte.

Buchstäblich so ist dies später zu den Acten festgestellt.

So kam der Morgen. Es mußte eine fürchterliche Nacht für die Unglückliche gewesen sein, denn über den Zustand ihres Innern während jener Stunden konnte sie später nicht die geringste Auskunft geben; kein Gefühl, kein Gedanke kam in ihre Erinnerung zurück. Vielleicht hatten auch Elend, Ermüdung, Hunger, Krankheit, das Schreien ihres Kindes, sie zuletzt völlig abgestumpft, so daß sie eines nur irgend klaren Gedankens oder Gefühles nicht mehr fähig gewesen war. Und somit wird auch ihre spätere That sich leichter erklären lassen.

Die alte Frau, als sie am andern Morgen erwachte, war ganz dieselbe geblieben. Ihre erste Bewegung war nach der Schnapsflasche, dem Einzigen, was sie außer den alten Lumpen noch besaß. Sie erklärte ihrer Tochter noch einmal, daß sie sie nicht bei sich behalten könne.

„Du hast Dir in Preußen „das Ferkel“ geholt, Du mußt damit nach Preußen zurück.“

Sie drängte sie, auf der Stelle aufzubrechen. Mare Müller war völlig stumpf und willenlos geworden; sie hockte ihr Kind auf, um sich damit wieder zu entfernen.

Da schien auch das Herz der alten Frau milder gestimmt zu werden; denn sie gegenredete:

„Stärke Dich erst durch einen Schluck Branntwein.“ Sie hielt ihr ihre Schnapsflasche hin. Mare Müller trank daraus, gleichfalls bewußtlos, willenlos; es wurde später sogar festgestellt, daß sie nur wenig getrunken hatte. Nun ging sie, und zwar mit dem schreienden Kinde.

Als sie die Schwelle des Hauses verließ, rief ihr die Mutter nach: „Wenn ich ein solches Ferkelchen hätte, so wüßte ich wohl, was ich thäte; ich schmisse es in den Dreck und träte es mit den Füßen.“ So hatten ihre Worte gelautet, wörtlich nach der in den Acten niedergelegten Uebersetzung aus dem Litthauischen.

Dies war der kurze Abschied zwischen Mutter und Tochter.

Ohne nur die Hand der Mutter berührt zu haben, ohne ein anderes Wort als das des Zornes und Hohnes von derselben mit auf den weiten Weg zu nehmen, schied die Tochter hungrig, erfroren, krank, elend, aber auch völlig stumpf, völlig todt in ihrem Inneren.

Darüber, was bei und nach der Trennung von ihrer Mutter in ihr vorgegangen war, konnte sie später niemals Auskunft geben; sie wußte nur, daß sie Neustadt wieder verlassen, und zu der preußischen Grenze zurück gekehrt sei. Auch Eins noch konnte sie versichern: sie hatte, seitdem sie das Haus ihrer Dienstherrschaft in Trockseden verlassen, nicht weinen können; keine einzige Thräne hatte ihr Herz erleichtert.

Wohin sie wollte, was sie ferner beginnen, was aus ihr und ihrem Kinde werden solle, über das Alles hatte sie nicht die geringste Vorstellung gehabt.

Hungrig, ohne ein Stückchen Brot, ohne ein Stückchen Geld, das weinende Kind an der Brust, in der Kälte eines strengen Wintermorgens in jenem Norden, ging sie mechanisch weiter.

Sie erreichte die Grenze in der Nähe des preußischen Dorfes Szlomiszken. Sie überschritt sie, ohne angehalten zu werden. Der Zufall hatte sie begünstigt, daß kein Grenzbeamter bei ihrem Herannahen an die Grenze sie bemerkt hatte; aber ein anderer Zufall führte einen Grenzkosaken herbei, als sie eben die Grenze überschritten hatte und schon auf preußischem Boden angelangt war.

Der Kosak sah sie. Sie trug ihr Kind in ihre alte Marginne gewickelt; es war eben so kalt, wie am gestrigen Tage, daher hatte sie dasselbe wieder fest eingehüllt und ruhig in ihrem Arm liegen; der Schnaps, den sie genossen, hatte, wahrscheinlich durch die Muttermilch betäubend auf das Kind eingewirkt. So sah sie der Kosak; er glaubte, sie trüge Salz, das bekanntlich häufig aus Rußland, wo es wohlfeiler ist, von preußischen Unterthanen nach Preußen eingeschmuggelt wird.

Der Kosak stürzte hinter ihr her. Solche Verletzungen des preußischen Gebiets von Seiten russischer Beamten fallen dort fast täglich vor. Der Kosak erreichte sie; er hielt sie fest, er riß ihr das Kind aus dein Arme, ehe sie nur seine Absicht ahnen, ehe sie nur daran denken konnte, sich zur Wehre zu setzen. Sie stand bestürzt, im ersten Augenblicke fassungslos. Der Kosak sprang mit seiner Beute zurück, über den Grenzgraben auf den Grenzwall.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_143.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)