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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

gegen einige (subjective und functionelle) Krankheitserscheinungen besteht, wozu medicinische Kenntnisse nicht gebraucht werden. Eine solche Heilmethode ist nun aber die Homöopathie, welche sicherlich längst als unwissenschaftlich und gefährlich verboten worden wäre, wenn die Wissenschaft (nicht etwa die Aerzte und Laien) über sie zu Gericht hätte sitzen dürfen und wenn sich dieselbe nicht der Protection einflußreicher Laien zu erfreuen hätte. Entweder – oder! Entweder man gebe allgemeine Kurirfreiheit oder dulde nur solche Heilkünstler, welche auf der Höhe der Wissenschaft stehen. – Beleuchten wir jetzt einige von den absonderlich heilmächtigen Laien, die eben in der Mode sind. Unter ihnen steht oben an

Herr Arthur Lutze,

ein geborner Berliner mit hervorragendem Organ des Religionssinnes (wie der Biograph Lutze´s, Herr Ebeling, berichtet) und mit der Erlaubniß in Cöthen, auch ohne die gesetzlichen Staatsprüfungen gemacht zu haben, practiciren zu dürfen (trotz der öfteren Vorstellungen der benachtheiligten dasigen Aerzte), übrigens ehemaliger Postsecretär und homöopathischer Heilkünstler (durch Privatstudium im Hering’schen Hausarzte) mit dem Motto: „wie glücklich wären die armen Leidenden, wenn jeder formell geprüfte und approbirte Arzt nur halb so viel heilen könnte, wie ich“; sonst auch noch Dichter, sowie Besitzer eines in Jena gekauften Doctordiploms und Inhaber einer Heilkraft (eine Gottesgabe nennt sie Herr Lutze), welche man, wie er selbst sagt, nicht durch Studiren erlernen und nicht mit der Vernunft begreifen kann.- Diese Gabe beruht auf dem Glauben und Willen und ist der Lebensmagnetismus. Wenn Herr Arthur Lutze den festen Willen hat (dies sind seine eigenen Worte), seinem leidenden Bruder (Schwester?) zu helfen, so mag er (nämlich Herr Arthur) thun was er will d. h. die Hand auflegen oder mit derselben einen Strich machen, oder sie nur ausstrecken, oder hauchen, oder nur ein Wort sprechen – und der Schmerz wird schweigen und das Leiden ein Ende nehmen. Wenn er nicht hilft (was übrigens sehr oft vorkommt), so ist er (nämlich Herr Lutze) schwach im Glauben oder im Willen gewesen, oder er hat empfunden, daß er in diesem Falle nicht helfen durfte, was kräftig magnetische Menschen deutlich wahrnehmen, als würde es ihnen auf unsichtbarem Wege zugeflüstert. – Zu den Erscheinungen der lebensmagnetischen Kraft des Herrn Lutze gehört auch, daß sich dieselbe auf Wasser, Zuckerpulver, homöopathische Streukügelchen u. s. w. übertragen läßt und daher kommt es denn, daß die von Lutze’s Hand durch mindestens 50 Schüttelschläge bereiteten, decillionfach verdünnten homöopathischen Arzneimittel in den von Herrn Lutze verkauften Hausapotheken (mit 135 Mitteln für 2 und mit 60 Mitteln für 1 Louisdor, mit 80 Mitteln für 7 Thaler und 40 Mitteln für 21/2 Thaler) weit wirksamer als die der andern Homöopathen sein sollen. Die Wirksamkeit ist hier so erhöht, daß wo andere Homöopathen 3, 4 und mehr Körnchen nehmen, Herr Lutze aus seiner Apotheke nie mehr als eins auf einmal nimmt und bei chronischen Uebeln (wie Blindheit, Taubheit, Lähmung, Rückgraths- und Knochenverkrümmungen etc.) nie vor 2, oft erst nach 4 und 5 Monaten ein zweites Korn zu geben braucht (nach dem Gesetze „des Nachwirkenlassens“). Darum lerne auch Jeder, der durch Herrn Lutze gesund werden will, vor allen Dingen Geduld; so predigt derselbe Herr Lutze, welcher, – trotzdem daß nach ihm „die Arznei nur den Anstoß zur Heilung gibt, die Naturkraft aber die Heilung vollendet“ – angeblich die ältesten Uebel durch einmaliges Anhauchen oder durch ein einziges Streukügelchen sofort hob. Daß Herrn Lutze´s Hausapotheken nach ihrem Preise eine so verschiedene Anzahl von Arzneimitteln enthalten und nicht alle Apotheken dieselben Mittel nur in verschiedener Quantität, ist sehr auffällig, denn entweder kann man mit den billigen Apotheken nicht alle Krankheitszustände kuriren oder in den theuren Apotheken sind überflüssige Mittel.

Halten wir nun eine Blumenlese in Herrn Arthur Lutze’s Schriften, welche sehr zahlreich und bei Herrn Lutze selbst zu kaufen sind, übrigens so ziemlich alle ganz dieselben paar Merkwürdigkeiten und Geschichten von Wunderkuren enthalten. – Am interessantesten erschien mir, daß einige der Lutze´schen homöopathischen Mittel vorzugsweise auf die rechte, andere auf die linke Körperhälfte wirken, und daß Herr Lutze „Denjenigen, welche ihren Kindern durch das Pockeneinimpfen nicht schädliche Stoffe (Skrofeln, Flechten, Schärfen aller Art) einimpfen lassen wollen“, den Rath ertheilt, dem Kinde das in seiner Hausapotheke vorräthige „Variolin“ (welches nicht blos das Impfen ersetzt, sondern auch den Verlauf der Pockenkrankheit überraschend schnell und günstig macht) innerlich zu geben, obschon er selbst ganz zu derselben Zeit, wo er diesen Rath ertheilt, in der Anhalt-Cöthenschen Zeitung (November 1851) durch eine großgedruckte Anzeige Arme zur unentgeltlichen Schutzpockenimpfung zu sich einladet. Warum will wohl Herr Lutze Armen, die seine Hausapotheke mit dem Variolin nicht kaufen können, Schärfen aller Art einimpfen? – Bewunderungswürdig war die Wirkung des Arthur-Lutze´schen Lebensmagnetisinus in folgenden Fällen: Einem 41jährigen Webermeister, welcher noch nie im Stande gewesen war, die Farben zu unterscheiden, hauchte Herr Lutze in beide Augen und sogleich konnte der erstaunte Mann die Farbenpracht der vor dem Hause blühenden Georginen erkennen, sowie Roth, Blau und Grün unterscheiden. – Eine 28jährige Frau mit großer Schwäche, die sich vor 4 Jahren dermaßen verhoben hatte, daß sie nur völlig zusammen gekrümmt gehen und liegen konnte, machte Herr Dr. Lutze durch wenige Striche mit seiner Hand über Rücken und Brust nach wenigen Minuten nicht blos ganz gerade, sondern auch kräftig. – Einen Mann, der sich auf der Straße eben den Fuß verrenkt hatte und nicht gehen konnte, heilte Herr Dr. Lutze durch bloßen Zuruf. – Ein Geistlicher, der an Taubheit litt, wurde bei 40 Meilen Entfernung in der Stunde, hörend, als Herr Dr. Lutze die Kraft seines Willens dahin sandte. – Nicht weniger heilkräftig und erstaunenswerth sind die Wirkungen der Lutze´schen magnetisirten homöopathischen Hochpotenzen (der 30fachen d. i. decillionfachen Verdünnungen) über die sich die meisten andern Homöopathen, aber ganz mit Unrecht lustig machen. Durch sie heilte Lutze frische und alte, von allopathischen Aerzten nicht zu heilende oder früher „allopathisch-verschmierte“ Uebel in weit kürzerer Zeit, als irgend ein anderer homöopathischer Heilkünstler, und man braucht sich deshalb nicht darüber aufzuhalten, wenn sich Herr Lutze mit Herrn Dr. Hahnemann, dem Entdecker des Alkali Pneum und Wiederauferwerker der von Descartes vor etwa 250 Jahren entdeckten Homöopathie[1] vergleicht und schreibt: „weil wir Beide (nämlich Herr Lutze und Herr Hahnemann) eine neue Heilmethode, respective entdeckt, vervollkommt und mit Erfolg ausgeübt haben, über welche Aerzte alter Schule als Nicht-Sachverständige nicht urtheilen, geschweige denn richten können, u. s. f.“

Von der enormen Wirkung der Lutze’schen Hochpotenzen mögen folgende Fälle Zeugniß ablegen: Einen 44jährigen Strumpfwirkermeister, welcher seit 14 Jahren an Knochenfraß des linken Beines so litt, daß dieses Bein 11/2 Zoll kürzer als das rechte geworden war und Patient stark hinkte, machte Lutze im Wege der Correspondenz (durch Schwefel und China X) in wenig Wochen vollständig gesund und beide Beine gleich lang, nachdem sich dieselben auffallend gereckt und gestreckt hatten. – Einem 4tägigen Kinde mit heftigen Krämpfen und Blutbrechen drückte Lutze ein Streukügelchen mit China zwischen die Lippen und sogleich hörten die Krämpfe auf und kamen nie wieder. – Ein sehr schmerzhafter seit 1 Stunde eingeklemmter Bruch bei einem 76jährigen Mann, der seinen Geist aufzugeben drohte, ging nach 35 Minuten dadurch zurück, daß Lutze einige Körnchen in ein Glas Wasser that und alle halbe Stunden einen Theelöffel voll davon nehmen ließ. –– Eine Frau, welche 17 Jahre den Wein- und Lachkrampf und seit 7 Jahren das Zittern aller Glieder hatte, wurde durch Riechen an die homöopathische Arznei vollständig geheilt, nachdem der Krampf die ersten 3 Tage nochmals sehr stark aufgetreten war. – Wie epileptische Krämpfe nach der ersten homöopathischen Gabe wegblieben; Krebsgeschwüre in wenig Wochen zuheilten; seit Jahren Taube (selbst Taubstumme) und Blinde in kurzer Zeit ihre Sinne wieder ganz gut gebrauchen konnten; wie ausgerenkte Hüften, hohe Schultern, Rückgrathskrümmungen und krumme Beine, Wassersuchten, Lähmungen nach Schlagfluß, Geschwülste u. s. w.


  1. In der den Werken des französischen Schriftstellers de Saint Evremont vorstehenden Lebensbeschreibung desselben von des Maizeaux, Ausgabe vom Jahre 1753 S. 60., erzählt Letzterer, daß der französische Philosoph Descartes, gestorben 1650, gelehrt habe „man solle bei Krankheiten Mittel anwenden, die ähnliche Krankheiten zu erzeugen vermöchten (les semblables se guérissent par les semblabes).“ Descartes starb auch gewissermaßen als Märtyrer dieser seiner Ansicht, indem er bei seinem Aufenthalt in Schweden ein heftiges Fieber, von welchem er befallen war, mit Branntwein kuriren wollte.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_159.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2020)