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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

deren Ahnherr Oberhofprediger und Generalsuperintendent in Gotha gewesen war, und die den beiden Ländern Gotha und Altenburg eine Menge angesehener Beamten und Geistliche geliefert hatte, so daß sie zu den ersten Familien gerechnet wurde. Die beiden Glanzsterne dieser zahlreichen Familie waren der zu seiner Zeit so berühmte Graf Gustav Adolf Gotter, Hofmarschall und Minister Friedrichs des Großen, der eine seiner poetischen Episteln an ihn gerichtet hat, und der Dichter Friedrich Wilhelm Gotter, der Jugendfreund Goethe’s, der als Geheimer-Secretair in Gotha starb, und dessen Tochter die Gemahlin des Philosophen Schelling und als solche Gönnerin des Dichters Grafen Platen war.

Die mütterliche Großmutter unsres Dichters, die er noch sehr gut kannte, war die Tochter eines der reichsten Männer in Thüringen, eines Kaufmanns Kühn in Eisenach, der den Titel „wirklicher kaiserlicher Rath“ hatte. Der Volksmund legt noch heute den Kühn’s, von welchen ein Zweig geadelt wurde, Millionen bei; sie besaßen Häuser und Rittergüter in Thüringen. Der letzte Herzog von Eisenach, Wilhelm Heinrich, ein wüster Verschwender, verstand es, dem „wirklichen kaiserlichen Rath Kühn“ fabelhafte Summen abzuborgen; als der Fürst in der Blüthe des Lebens plötzlich starb und sein Erbe, der Herzog Ernst August von Weimar, die Bezahlung der Schulden verweigerte, erhielt Herr Kühn das fürstliche Mobiliar für seine Forderung. Der Mann hatte den Tod von diesem Verlust, und von dem ganzen Vermögen ward nichts gerettet.

Die gegenständliche Erinnerung an den verlorenen Reichthum blieben die fürstlichen Möbeln, mit welchen das Vaterhaus unsers Dichters überfüllt war, und wovon er selbst noch als handgreifliche Schicksalsironie eine – leere Kassette besitzt. Was davon nicht zum Gebrauch verwendet werden konnte, war auf dem Hausboden auf- und zusammengestellt, alle von Mahagoni-, Palissander- und Ebenholz, vergoldet und verschnörkelt, mit dem herzoglich sächsischen Wappen fournirt. Da hockten unter dem Dache die Gueridons, die einst um die hochfürstlichen Paradebetten gestanden, die Consoles, Toiletten, Fauteuils, Tabourets, Etageren etc., und der Knabe baute sich aus ihnen eine phantastische Welt, Häuser und Straßen, in welchen er wohnte, träumte und Bücher las. Es ist ein pikantes Bild: ein schlanker blondlockiger Knabe mit glänzenden, hellblauen Augen und der edelsten Gesichtsbildung in einer phantastisch zusammengestellten Anhäufung prachtvoller Möbeln mit dem Sachsenwappen, auf dem wüsten Boden eines Hauses in dem hochromantischen Ruhlathale, mit den alterthümlichen, poetischen Erinnerungen, und diese Möbeln die Utensilien eines ausgestorbenen Fürstenhauses und die letzten Ueberbleibsel eines schier fabelhaften Reichthums, dessen Miterbe dieser Knabe geworden sein würde, der nun in dieser kleinen wunderlichen Rococowelt mit den ersten Weihen zum Dichter der Neuzeit und der verwandelten Welt begnadigt wird. Um ihn ein Greis, der ihm von dem Wunderdoktor aus dem dreißigjährigen Kriege erzählt und von den gelehrten Aerzten, die als „Pelgari“ Bücher geschrieben und des Knaben Vorfahren gewesen, gehätschelt von einer Greisin, die, wie eine alte Fee, nicht müde wird, von den Wundern ihrer Jugend und ihres Vaterhauses, des „wirklichen kaiserlichen Raths“ zu berichten, wie sie mit Prinzessinnen gespielt und nie über die Straße gegangen, sondern stets in einer prächtigen Karosse gefahren, und endlich unterhalten von einer jüngern Frau, die ihm die staunenswerthesten Dinge von ihrem Vorfahren, dem Grafen Gotter, mittheilt und die Lieder des Dichters Gotter recidirt. Im weitern Kreise dann die reizenden ruhlaer Mädchen, die Enakssöhne der Arbeiter, die Sagen und Märchen, die herrlichen Berge und Thäler, die Buchen- und Eichenwälder, die Wiesen, Felsen und Bäche, und über Allem der Hauch der Poesie, der Romantik – wahrlich, wenn Storch kein Shakespeare geworden ist, die Schuld liegt nicht an den Gestalten und Kräften, die auf seine früheste Jugend eingewirkt haben. Aber er sollte den Becher der Poesie noch tiefer schmecken, den bittern, schlammigen Bodensatz, der da rauhe, gräßliche Wirklichkeit heißt.

Mit dem Tode des Vaters beginnt die trübe Verwirrung in des Dichters Leben. Seine familienstolze Mutter heirathete einen vierzehn Jahre jüngern Mann, einen Pfeifenbeschläger. Die Ehe wurde über die Maßen unglücklich, und der Knabe empfing neben einer thöricht strengen, regellosen, ja albernen Erziehung die scheußlichsten und widerwärtigsten Eindrücke, die ein junges, poetisches Gemüth für das ganze Leben vergiften können. Storch erzählt in seinem Buche Scenen, die jedes sittliche Gefühl auf’s Aeußerste empören müssen. Man wird vom tiefsten Mitleide mit dem unglücklichen Kinde ergriffen, das ohne Schuld verdammt ist, in solch’ bitterböser Wirthschaft aufzuwachsen und dessen erste und wichtigste Entwickelung von solch’ verkehrten leidenschaftlichen Menschen geleitet wird. Der beschränkte Raum verbietet uns, mehr als eine dieser Scenen mitzutheilen; wir wählen diese ihrer Originalität und ihres wahrhaft dämonischen Gehaltes wegen aus.

Storch spricht nämlich in seinem Buche einen furchtbaren Verdacht aus, den wir hier nicht näher bezeichnen können, der sich aber wie ein tiefer schwarzer Schatten über des Dichters Jugend, ja über sein ganzes Leben gelegt hat. Mag dieser Verdacht begründet sein oder nicht, wehe dem jugendlichen Gemüth, auf welchem ein solcher Verdacht schrecklich beängstigend lastet, wie der Alp auf einem Träumer. Der erste Gifttropfen in den Blumenkelch seines träumerischen Kinderglücks wurde dem siebenjährigen Knaben an der Leiche seines Vaters von der Mutter gereicht, die sich mit ihm in die abgelegene Stube, wo die Leiche lag, eingeschlossen hatte und hier eine so haarsträubende Scene aufführte, daß wir uns nicht wundern, daß dem Kinde das Herz im Leibe zitterte; es ist uns beim Lesen nicht besser ergangen. Seit dieser Stunde hatte der Knabe eine leicht erklärliche Scheu vor seiner Mutter. Ein Jahr später, an einem trüben regnerischen Spätherbstabend saß der Knabe mit der Mutter allein in der Wohnstube am Tische, das Kind in einem Buche lesend, die Mutter strickend. Auf dem Tische lagen noch die Messer vom Abendessen: denn Ordnung war eben nicht in der Wirthschaft. Und diese Messer waren spitz. Den Knaben überkommt plötzlich eine eigenthümliche Angst, er schlägt die Augen nach dem Gesichte der Mutter auf und erschrickt. Aus den dunkel gerötheten und verzerrten Zügen starren ihn ein paar weit aus ihren Höhlen hervorquellende glühende Augen mit einem entsetzlichen Ausdruck an.

„Mutter! Mutter! Um Gottes willen, was hast Du? Was ist mit Dir?“

Im Nu ergreift die also Angeredete ein Messer und stößt es mit wilder Heftigkeit nach der Brust ihres Kindes, das bis zum Tod entsetzt, sich bückend zur Seite weicht, so daß der gewaltige Stoß fehl geht. Sie aber faßt, ein fürchterliches Wuthgeheul ausstoßend, nach ihrem Opfer, um es zu meucheln; es entwischt ihr, springt auf die Straße und schreit um Hülfe. Die Nachbarn eilen herbei und finden eine Wahnsinnige im ersten furchtbaren Wuthausbruch. Vier starke Männer, die sie halten wollten, schleuderte sie wie Kinder von sich. Sie tobte die ganze Nacht und in Paroxismus mit lichten Intervallen mehrere Wochen. Der Arzt verlangte, daß der Knabe aus dem Hause entfernt würde, aber obgleich er sehr reiche Verwandte hatte, nahm ihn doch Niemand zu sich. Er wäre gern so weit als möglich von der Mutter fort gewesen, denn ihr Anblick erfüllte ihn stets mit gräßlicher Angst, die jede jugendliche Lebensblüthe in ihm versengte. Er mußte wohl bleiben. Nun rieth ihm der Arzt: nie mit der Mutter im Zimmer allein zu sein. So saß er denn immer auf der Lauer, um mit der dritten Person die Stube zu verlassen.

Im nächsten Sommer versah er’s und war eines Nachmittags mit ihr allein. Zufällig wendet er sich nach der Mutter und schreit auf vor Entsetzen. Der Wahnsinn glüht wieder aus ihren Augen, ihre Hände strecken sich krallenartig nach ihm aus.

„Hab’ ich Dich endlich!“ heult sie mit verzerrtem Munde. „Jetzt sollst Du mir nicht entgehen.“ Er stürzt nach der Thüre; sie verrennt ihm den Weg, sie faßt nach ihm, um ihn zu erwürgen; er springt auf den Tisch, reißt ein Fenster auf und stürzt sich auf den Hof hinaus. Der Schrecken wirkte fast tödtlich auf ihn; er wurde doch nicht entfernt, und um das harmlose Glück seiner Jugend war’s geschehen. Der Paroxismus ging diesmal schnell vorüber, aber im Wahnsinn hatte die unglückliche Frau Dinge gesprochen und gethan, die mit ihrem Gebahren an der Leiche des Vaters zusammengehalten, im Laufe der Zeit jenen Verdacht in der Seele unseres jungen Dichtern erzeugten, der sein Leben vergiftet hat.

Zwei Ereignisse sind in dieser Zeit bedeutungsvoll für den Knaben, welche die Feder des Mannes mit großer Lebendigkeit aus eigener Anschauung beschreibt, die furchtbare Explosion der französischen Pulverwagen in den Straßen Eisenachs und die dadurch bewirkte theilweise Zerstörung der Stadt am Abend des 1. September 1810, und die großartige Einweihung des Bonifacius-Denkmals (Kandelabers) bei Altenbergen am 1. September 1811.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_198.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)