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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

auf dem Ihr Glück ruht. Die Zeit wird kommen, wo Sie Aufklärung erhalten.“

„Und wer giebt sie mir?“

„Sophie Saller! Ich sage nicht auf Wiedersehen, denn ich muß für Sie wie für die Welt todt bleiben.“

Kolbert verschwand hinter der Kirche, indem er den Advokaten mit sich fortschleppte. Wie träumend hatte Franz einige Augenblicke an seinem Platze gestanden, dann eilte er dem Fremden nach. Die Finsterniß war so dicht, daß er Nichts unterscheiden konnte. Er blieb stehen, um sich zu orientiren: da hörte er in der Entfernung Schritte, die sich rasch entfernten. Das Geräusch dieser Schritte wurde von zwei Personen verursacht. Er verfolgte die Richtung, aus der das Geräusch kam – bald stand er an dem Ufer des breiten Alsterbassins. In dem Augenblicke, als er ankam, stieß ein Kahn ab, er hörte es an dem Rauschen der Ruder und dem Geklirr der Kette. Dann sah er, als er seine Sehkraft anstrengte, einen dunkeln Gegenstand auf der Wasserfläche verschwinden. Nach einer Minute war die Gegend wie ausgestorben. Franz suchte und fand den Rückweg. Als er von Schnee und Regen durchnäßt sein Zimmer betrat, schlug es zehn Uhr. Ein Fieberfrost schüttelte ihn; aber er erhielt sich aufrecht, um noch eine Stunde bei seiner Frau zuzubringen, deren Ruhe er nicht stören wollte.



IX.
Die Lösung.

Am fünfzehnten December mußte Sophie Saller erscheinen, um ihre Rente in Empfang zu nehmen. Es war dies also der Tag, der Franz Aufklärung bringen, der ihn von der furchtbaren Herzenslast befreien sollte. Der Entschluß stand in ihm fest, bis zu diesem Termine in Geduld auszuharren, dann aber mit kräftiger Hand den Schleier zu zerreißen, der so geheimnißvoll über seiner Gattin lag. Der Banquier hatte Mitleid mit Henrietten, denn er sah, wie auch sie kämpfte, er sah, mit welcher Ueberwindung sie die Ruhe und Freundlichkeit erkünstelte, die sie ihm zeigte.

„Warum darf ich nicht wissen, was Dich bedrückt?“ hatte er sie einmal gefragt. „Bin ich nicht Dein Gatte, der Alles mit Dir zu tragen bereit ist?“ – „Franz,“ hatte sie ihm geantwortet, „fordere nicht, daß ich über fremdes Eigenthum verfüge, und das Geheimniß, nach dem Du fragst, ist nicht mein Eigenthum. Ich gäbe Viel, Alles darum, wäre es mir vergönnt, den Zustand Deiner Unruhe und Besorgniß um einen Tag, selbst um eine Stunde zu verkürzen. Habe Geduld, und vertraue Deiner Gattin, die für Dich lebt und stirbt.“

„Ich werde Geduld haben,“ murmelte Franz – „bis zum fünfzehnten December!“

Er begrub sich in seine Geschäfte, um den Geist von der verhängnißvollen Angelegenheit abzulenken, und mied es, Nachforschungen anzustellen. Aber wie die geheimnißvolle Hand das Dunkel um ihn gewoben, so schien dieselbe Hand es ohne seine Mitwirkung lichten zu wollen. Vierzehn Tage nach dem Rendezvous bei der Kirche verbreitete sich das Gerücht, der Advokat Eberhardi sei in seiner Wohnung erhängt gefunden, und es unterliege keinem Zweifel, daß er selbst Hand an sich gelegt, da er auf dem Tische die letzte Bestimmung über sein Vermögen hinterlassen habe. Den Grund, der ihn zu dem Selbstmorde getrieben, kannte man nicht.

„Sollte man einen Zeugen aus der Welt geschafft haben?“ fragte sich Franz mißtrauisch. „Welche furchtbare Gewalt schwebt über mir und meiner – vielleicht schuldigen Frau!“ fügte er schaudernd hinzu. „Und das Alles eines Vermögens wegen, das mich unglücklich macht! O, wie gern wäre ich der einfache, geplagte Commis geblieben, hätte ich mir meine Henriette bewahren können!“

Am folgenden Tage erhielt er durch die Stadtpost ein Zeitungsblatt unter Kreuzcouvert. Es war die neueste Nummer des Hamburger Correspondenten. Als er das Blatt öffnete, fand er einen Artikel mit Rothstift angestrichen, und aus den eingeklammerten Zeilen trat ihm der großgedruckte Name „Edmund Kolbert“ entgegen. Begierig las er folgenden, von London datirten Artikel:

„In diesen Tagen hat die Kings-Bench einen zugleich wichtigen und merkwürdigen Prozeß beendet, der seit beinahe zwanzig Jahren obschwebte. Im Jahre 1831 ward der sehr ehrenwerthe Lord Brougham durch Gift ermordet. Der Verdacht dieser schändlichen That fiel auf einen jungen Marine-Offizier, der mit der einzigen Tochter des edeln Lords, Jenny, heimlich ein zärtliches Verhältniß unterhielt. Lord Brougham, ein strenger Mann, billigte dieses Verhältniß nicht, und sandte die Tochter zu seinem Bruder, der in Deutschland ein Consulat verwaltete. Edmund Dudley, der Liebhaber, gerieth in Verzweiflung, drang in das Landhaus des Lords, und verlangte den Aufenthalt des Mädchens zu wissen, mit dem er, wie er sagte, vor Gott verlobt sei. Der Vater ließ den Verwegenen durch seine Diener zur Thür hinauswerfen. Einige Tage nach diesem Vorfalle verschied der Lord, und die Aerzte constatirten eine Vergiftung, die dadurch verübt, daß man Arsenik in die Karaffe geworfen, aus der der Lord das Wasser trank. Nach der angestellten Untersuchung konnte kein anderer der Giftmischer gewesen sein, als der verzweifelnde Liebhaber, der die Geliebte von der Tyrannei des Vaters befreien, ihr aber auch zugleich das große Vermögen erhalten wollte, da sie die einzige Tochter war. Edmund Dudley ward in dem Augenblicke ergriffen, als er sich nach Deutschland einschiffen wollte. Man brachte ihn in das Criminalgefängniß, und machte ihm den Prozeß. Nach einem Jahre verschwand der Angeklagte, gegen den keine Beweise aufzubringen waren, auf eine unerklärliche Weise aus dem Gefängnisse. Alle Bemühungen, ihn aufzufinden, blieben vergeblich, und das Untersuchungsverfahren mußte ruhen. Da auch die junge Lady aus dem Hause ihres Onkels verschwunden war, hatte man allen Grund zu der Annahme, daß die beiden Liebenden zusammen die Flucht ergriffen hätten. Das große Vermögen des Lords ward von dem Staate verwaltet. Die Aufforderungen an die Erbin blieben erfolglos. Im Jahre 1847 starb der Consul Brougham, der Bruder des Vergifteten, in Kopenhagen, wohin er sich aus Deutschland zurückgezogen hatte. Sein Vermögen, das aus fünfmalhunderttausend Mark bestand, hatte er der Tochter eines gewissen Edmund Kolbert vermacht, der ihm in Berlin bei einer Feuersbrunst das Leben gerettet. Der Consul war aus Dankbarkeit der Pathe des jungen Mädchens geworden. Als Henriette Kolbert das Vermögen ihres verstorbenen Pathen in Kopenhagen erheben wollte, machte man ihr Schwierigkeiten, da ihr die Legitimationspapiere fehlten, und es ergab sich, daß sie eine uneheliche Tochter Kolbert’s war. Es entspann sich ein Prozeß, der dadurch zu ihren Gunsten ausfiel, daß sie endlich den Trauschein ihrer Eltern brachte. Aus diesem Scheine nun ergab sich, daß die Mutter keine andere war, als jene Lady Jenny Brougham, die seit der Vergiftung ihres Vaters verschwunden war. In Kopenhagen wußte man um das Verbrechen nicht, und zahlte ihr die Erbschaft aus. Wiederum vergingen einige Jahre, da schrieb der Advokat E. aus Hamburg der Kings-Bench in London, daß Edmund Kolbert wahrscheinlich Edmund Dudley sei, da er sich mit Jenny Brougham verheirathet habe. Die Nachforschungen begannen von Neuem zunächst bei dem holsteinischen Prediger, der die Liebenden getraut und ihnen den Trauschein ausgestellt hatte. Der Pfarrer Lambert, der sich bei der Erhebung der Herzogthümer gegen Dänemark betheiligt, war seines Amtes entsetzt und verschwunden. Schon glaubte man dem vermeintlichen Verbrecher auf der Spur zu sein, als man durch den Globe erfuhr, Edmund Kolbert sei in Berlin gestorben, nachdem er seine Lebenspolice verkauft habe. Auch Jenny war nicht mehr am Leben, man sandte ihren Todtenschein von Hamburg ein, wo sie in dürftigen Verhältnissen gestorben war. Wem gebührt nun das große Vermögen des vergifteten Lords? war die Frage. Die Kings-Bench entschied für Confiscation, da Edmund und Jenny ungerechtfertigt gestorben seien. Da erschien zu Anfang des November ein Mann vor dem Tribunale, den das Gewissen trieb, sich als den Mörder des Lord Brougham zu bekennen. Er war der Kammerdiener des Verstorbenen gewesen, und hatte, in der Meinung, sein Herr werde ihm ein großes Legat für treu geleistete Dienste aussetzen, das Gift in die Karaffe geworfen. Er hatte die Ausführung des Verbrechens in dem Augenblicke gewählt, wo der Verdacht auf den verzweifelnden Liebhaber fallen mußte. Man ist neugierig, wer sich als die Erbin des Vermögens legitimiren wird, das jetzt aus mehr denn einer Million Pfund Sterling besteht.“

Dem armen Banquier schwindelte der Kopf als er diesen Artikel gelesen hatte. Er las ihn zum zweiten, zum dritten Male. Das also war das Familiengeheimniß, das ihm so großen Kummer bereitet hatte. Wie Schuppen fiel es von seinen Augen. Alle

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_236.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)