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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

erhalten, das Ihnen mein würdiger Freund, der Pastor Lambert zusandte?“

„Ja, mein Herr!“

„Dann habe ich Ihnen wenig noch zu eröffnen, ehe ich die Augen schließe.“

„Um Gottes willen, Vater, was ist geschehen?“ rief Henriette.

„Du wirst Alles erfahren, mein theures Kind, wenn Du mich ruhig anhören willst.“

Mit Hülfe Sophie’s richtete sich der Kranke mühsam empor; dann begann er mit schwacher Stimme:

„Ich werde es nicht versuchen, meine Person zu rechtfertigen, denn Sie können Alles ermessen, Herr Soltau, weil Sie lieben. Ach, auch ich liebte, ich liebte wie Sie, mit der ganzen Kraft eines jugendlichen Herzens. Und Jenny, Henriette’s und Sophie’s Mutter – Sie haben sie gekannt, mein Herr – war sie nicht ein Engel an Liebe und Güte? Wir beteten uns an, und durften uns nur heimlich sehen, weil die Welt den vermeintlichen Giftmischer ausgestoßen hatte. In meinen Kindern lebte dieser Engel fort; aber auch des Vaters furchtbares Geschick würde sich auf sie übertragen haben, wenn ich nicht wie eine zweite Vorsehung über sie gewacht hätte. Diese Pflicht fesselte mich an das Leben, denn ich hatte die Hoffnung aufgegeben, meine Unschuld je entdeckt zu sehen. Als die Mutter meiner Kinder gestorben war, erzitterte ich vor dem Gedanken: was wird aus Henriette? Kann sie ohne Schaam sich an die Brust ihres Mannes werfen? Kann Sophie einst dem Geliebten die Hand reichen, ohne erröthen zu müssen? Kolbert starb in den Augen der Welt, aber er lebte fort, um eine schützende Mauer um seine Kinder zu bilden. Der Advokat trat zuerst zwischen Sie und Ihre Gattin. Ein tückischer Zufall spielte ihm Ihren Ring in die Hände, als Henriette mich besuchte. Unser Geheimniß stand auf dem Spiele, und die arme Henriette zitterte, daß die Liebe dessen beeinträchtigt würde, den sie anbetete, dessen Stolz auf seine Gattin sie kannte. Mein ganzes Leben war ja eine Täuschung, und ich nahm zu der des falschen Ringes meine Zuflucht, als ich die Angst meiner Tochter sah, die mir den Werth und die Entstehung des Kleinods mitgetheilt hatte. Henriette besaß einen falschen Ring, ohne es zu wissen, ich hatte ihn ihr als wiedergefunden gegeben. Erst auf dem Balle erfuhr ich, in wessen Händen sich der rechte befand. Der Advokat benutzte ihn, um seine Rache auszuführen. Ich konnte nicht verhindern, daß er einen Angriff auf Sie ausführte. Wäre ich eine Minute früher gekommen, Sie hätten nie erfahren, eben so wenig auch Henriette, daß ein falscher Ring existirte. Glauben Sie mir,“ sagte Edmund traurig, „es kam mir schwer an, Mittel dieser Art zu ergreifen; aber ich hätte noch andere nicht verschmäht, um mein Kind zu schützen.“

Der Kranke war erschöpft, er schwieg einen Augenblick. Soltau ergriff gerührt die Hand seiner Frau, die ihn mit nassen Augen anblickte. Henriette verstand, daß er sie des ungerechten Verdachtes wegen um Verzeihung bat.

„Vater,“ rief Henriette, „Sie haben in meinem Herzen gelesen! Mein ganzes Bestreben war, daß Franz mit Recht auf seine Gattin stolz sein konnte. Ich wußte, was er von mir forderte, und ich wollte ihm Alles gewähren oder sterben!“

„Du warst eine gute Tochter und eine gute Gattin, mein Kind! Doch, ich fühle, daß meine Kräfte rasch schwinden. Mir bleibt noch Einiges Deinem Gatten zu entdecken – hören Sie mich an, Herr Soltau. Die Summe, die Sie für die Police zahlten, brauchte ich zu einer Reise nach England. In Berlin starb wirklich ein Kolbert – er war Gesandtschaftssecretär und mein Freund. Die Versicherungssumme sollte ich seiner Schwester nach London bringen. Da er Edmund Kolbert hieß – denselben Namen hatte ich schon Jahre lang geführt – so beschloß ich, von seinem Tode Vortheil zu ziehen. Durch die Rente stellte ich meine Sophie sicher, und um auch meiner Henriette etwas zukommen zu lassen, schloß ich mit Ihnen den bewußten Kauf ab. Henriette kannte mich, sie hatte mich bei der Trauung gesehen, die deshalb vollzogen worden war, um ihr das Vermögen des Consuls, ihres Großonkels zu verschaffen. Sophie hatte eine Pension verlassen, in der sie von ihrem zartesten Alter an gewesen war. So lange der Fluch auf dem Vater ruhete, sollte sie ihn nicht kennen lernen; sie sollte lieber eine Waise bleiben, als die Tochter eines Giftmischers werden. Ich reis´te nach London, theils um dem Auftrage meines verstorbenen Freundes zu genügen, theils um nach dem Stande meines Prozesses und nach dem Vermögen meiner Frau zu forschen. Als Kapitain Belling hielt ich mich einige Zeit in London auf. Jetzt erkannte ich, daß eine Vorsehung lebte, an der ich schon gezweifelt hatte. Ich suchte die Schwester Kolbert’s auf, eine Wittwe Lay: sie erkannte in mir den unglücklichen Edmund, und ich erkannte in ihr die Erzieherin meiner armen Jenny. Unser Wiedersehen war ein schmerzliches. Die gute Frau hing noch mit so großer Liebe an ihrer Schülerin, daß sie beschloß, mich nach Hamburg zu begleiten, um die Kinder Jenny’s kennen zu lernen und der verlassenen Sophie Mutter zu sein. Sie können sich denken, mit welcher Freude ich diesen Entschluß aufnahm. Nun machte sie mir wichtige Entdeckungen. Von jeher überzeugt, daß ich den Mord nicht begangen, hatte sie die Domestiken des alten Lords beobachtet. William, der Kammerdiener, ein habsüchtiger Mann, hatte durch sein gedrücktes, scheues Wesen ihren Verdacht erregt. Wir schrieben ihm einen anonymen Brief, in welchem wir ihn geradezu des Verbrechens beschuldigten, und ihn aufforderten, sein Seelenheil zu wahren, was nur dadurch geschehen könne, daß er den Verdacht von den Häuptern zweier Unschuldigen wälze, die ihn vor Gott verklagten. Wir riethen ihm, die Schwere seines Verbrechens zu lindern, indem er dem Tribunale schriftlich die Wahrheit anzeigte, und England verließe. Da dieser Brief keine Wirkung zu haben schien, so folgte ich dem Drange meines Herzens, und reis’te mit Mrs. Lay nach Hamburg zurück. Nun entdeckte ich mich der armen Sophie und gab ihr in meiner Reisegefährtin eine Mutter. Ich miethete unter dem Namen Kapitain Belling dieses Haus, in dem Sophie zeither ein Stübchen bewohnt hatte. Dieses Haus nun gehört dem Schiffsrheder Herrn S. Madame Lay wurde mit Madame S. bekannt, und so kam es, daß wir zu dem Balle geladen wurden, auf dem Henriette die Erzieherin ihrer Mutter kennen lernte.

„Die übrigen Vorgänge kennen Sie, – mir fehlt die Kraft, Ihnen mehr zu sagen – aber was ich bisher gesagt, wird Ihnen den Schlüssel zu den Räthseln geben, zu dem Geheimnisse, das auf der Familie Ihrer Gattin lastete. Ich bin schwer verwundet – durch einen Schuß des Advokaten – mit dem ich in Folge der Unterredung an der Kirche – ein Duell hatte. Er kannte bereits aus den Zeitungen meine Unschuld – als wir uns auf dem Kampfplatze einfanden. O, meine Kinder, nun sterbe ich zufrieden, denn Ihr könnt mich vor der Welt Euren Vater nennen, ohne vor Schaam erröthen zu müssen. Und Dir, Jenny, verklärte Dulderin, Dir habe ich den Eid gehalten – den ich Dir in Deiner letzten Stunde geschworen – unsere Kinder beweinen den Vater, der von jeder Schuld frei ist!“

Edmund sank in das Bett zurück. Nach einigen Augenblicken jedoch erhob er sich wieder mit großer Anstrengung. In seinem Gesichte war eine auffallende Veränderung vorgegangen: die Augen glühten seltsam, und die Blässe war bläulich geworden.

„Herr Soltau,“ fragte er leise, „darf ich Sie jetzt meinen Sohn nennen?“

Der bewegte Banquier war keines Wortes mächtig; er ergriff die Hand des Sterbenden und drückte sie mit Innigkeit an seine Lippen.

„Vater meiner angebeteten Henriette!“ stammelte er endlich.

„Ich werde stolz sein, mich Ihren Sohn nennen zu dürfen!“

„Dann vergessen Sie meinen alten Freund nicht!“ sagte Edmund, indem er zu dem Pastor hinüberblickte. „Dafür, daß er den Eltern Ihrer Gattin den kirchlichen Segen gegeben, hat er sein Amt eingebüßt. Die Denunciation ist von dem Advokaten ausgegangen.“

„Verzeihen wir ihm,“ sagte der würdige Pfarrer; „er wandelt ja nicht mehr auf der Erde!“

„Ist er todt?“ fragte der Kranke.

„Er hat sich selbst entleibt; seine Sophismen waren nicht mächtig genug, um das schwer belastete Gewissen zu beruhigen.“

„Mein Gott, mein Gott!“ rief Edmund, indem er die Arme ausbreitete.

Der letzte Todeskampf begann. Nach einer Viertelstunde war Edmund verschieden.

„Herr,“ betete der Pfarrer, „nimm seine Seele gnädig auf!“


Noch an demselben Tage überreichte Pastor Lambert dem Banquier die Papiere, die zur Erhebung des Vermögens in London erforderlich waren; Edmund hatte sie ihm vor dem Duelle anvertraut.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_238.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)