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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

bleich. Die schönen großen Augen waren trüb und zeugten von schlaflosen, kummervollen Nächten. Tonietto schien in fieberhafter Aufregung; mit glühenden Wangen, die Lippen aufgedunsen und fest an einander gepreßt, starrte er mit weit aufgerissenen Augen wüthend und unheimlich Jeden an, als ob er in Jedem den Gensd’armen sähe, der ihn seiner Braut aus den Armen reißen wolle. Auch in seinen sonstigen Gewohnheiten zeigte sich eine auffallende Veränderung. Bisher war er unbestritten der geregeltste junge Mann des Dorfes gewesen; jetzt fing er an, sich öfters aus dem elterlichen Hause wegzuschleichen, zuweilen blieb er selbst zwei, drei Tage aus. Fragte man ihn nach der Ursache, so wollte er bald hier, bald dort Festlichkeiten der Umgegend beigewohnt haben. Aber Niemand glaubte ihm; Maria hatte ja ihre Wohnung nicht verlassen. Es ging das Gerücht, daß er mit Banditen Verbindungen angeknüpft habe, deren sich damals einige in der Umgebung des Dorfes festgesetzt hatten, der letzte Rest der Bande Majino’s, des „Alpenkaisers“, wie er sich nannte, die früher Jahre lang dort gehaust hatte.

Mochte dem sein, wie ihm wollte, gewiß ist, daß Tonietto sich am Ziehungstage in dem Hauptorte des Departements einfand. Man hatte bemerkt, daß Maria ihn begleitet hatte. Auf dem ganzen Wege hatte sie ihm dringend und bittend zugesprochen; es schien, als ob sie sich große Mühe gegeben, ihn zu irgend Etwas zu überreden. Schweigend und mürrisch war er neben ihr gegangen, mit einem Ausdrucke schlecht verhehlten Mißbehagens.

In dem Saale, wo die Ziehung stattfinden sollte, verließ er trotzig den Arm seiner Braut. Das arme Kind verbarg sich schnell in einem Winkel und erwartete muthig die Verkündigung der Loose; Tonietto mischte sich unter die Gruppen der jungen Leute, die das gleiche Schicksal dort hingeführt, die die gleiche bange Erwartung erfüllte. Alle betrachteten ihn mit lebhafter Theilnahme. „Tonietto,“ sagten sie, „wenn nur Dir Gott eine gute Nummer schickt! Wir haben Vater, Mutter, die wir pflegen und stützen müssen; will es aber das Schicksal anders, was ist’s weiter? Wir tragen dann keine Schuld, und – wir sehen die schöne weite Welt! Und dann, wie viele sind nicht heut zu Tage, die ganz wie wir die Heimath verließen, und als Offiziere, Generäle aus dem Kampfe zurückkehrten? – Aber Du, armer Tonietto, Du, mit Deiner lieben, reizenden Braut, – nein, das wäre sündlich!“

Tonietto antwortete nicht.

Endlich kamen der Präfect, die Militairbehörden, und die Ziehung begann. Nach der Reihe trat Jeder vor. Arme Maria, wie bebte dein Herz, als jetzt auch Tonietto vortreten mußte.

Er schien ruhig. Er zog – – Nr. 2.

Kein Zweifel war mehr möglich. Er trat zurück.

Maria trug man ohnmächtig hinweg; Tonietto sprach kein Wort.

Sobald die Ziehung beendet war, erhielten die Conscribirten den Befehl, sich in drei Tagen wieder zu gestellen. Man verlas ihnen die Kriegsartikel über die Strafe der Renitenten, und Alles zog sich zurück.

Die Eltern Tonietto’s wollten ihn mitnehmen. Er weigerte sich; er ginge mit den Andern, sagte er, und werde sie auf dem Wege wieder einholen.

Aber vergeblich erwartete man ihn den ganzen Tag und die folgende Nacht. Er kam nicht.

Neue Unruhe, neuer Schreck! Man gedachte jener schrecklichen Strafen, die nicht nur Tonietto erwarteten, sondern auch die Eltern des Deserteurs treffen mußten. Alle glaubten sich verloren.

In dieser Angst harrten sie drei lange Tage, aber immer vergeblich, auf seine Rückkehr. Am vierten Tage kam ein Sous-Offizier der Gensd’armerie, seine Abwesenheit zu constatiren. Aus Rücksicht für die braven Eltern bewilligte man ihnen noch eine Frist von zwei Tagen, um den Widerspenstigen zu gestellen. Aber wo sollten sie ihn suchen? – Sie waren der Verzweiflung nahe.

Am sechsten Tage schickte man ihnen zwei Mann Wache.

Aber am Abend dieses Tages sahen verspätete Landleute mehrere verdächtige Gestalten das Haus umschleichen. Um zwei Uhr des Morgens erschien in der Wohnung ein unbekannter Mann, und forderte den Vater Tonietto’s auf, hinter die Kirche zu kommen, es verlange ihn Jemand zu sprechen. Er ging hin und fand – seinen Sohn. Fast drei Stunden lang blieben sie dort und verhandelten sehr eifrig mit einander.

Man glaubte, Tonietto habe seinen Vater, der noch rüstig und kräftig genug war, überreden wollen, sich ihm und seinen Genossen anzuschließen, was dieser aber entschieden verweigert habe. Gewiß ist, daß Tonietto des Morgens in seiner Wohnung erschien. Die Wache wollte ihn verhaften.

„Das ist überflüssig!“ rief er, und schob die Blouse etwas zur Seite, als ob er ihnen sehen lassen wollte, was er unter den Kleidern verborgen trug. „Rühre Keiner mich an! – Sobald ich den Meinigen Lebewohl gesagt,“ fügte er hinzu, „gehe ich nach dem Hauptquartier, mich freiwillig zu melden.“

Er hielt Wort.

Ich hatte von seiner Rückkehr gehört, und lief hinzu. Ich fand Tonietto im Begriffe, das Haus seiner Eltern zu verlassen, und Maria Lebewohl zu sagen.

„Gott wird Dir lohnen,“ sagte ich zu ihm, „Du handelst wie ein braver Sohn.“

„So ist es,“ erwiederte er, und trat in’s Haus Maria’s.

Das war ein trauriger Abschied. Maria hat es mir tausendmal erzählt. Tonietto hatte ihr ihre Freiheit, ihr Wort zurückgeben wollen, das sie so oft einander gegeben. Sie wollte nichts davon hören und versprach, seine Rückkehr abzuwarten; denn damals hatte man noch nicht die Erfahrung gemacht, was es mit dieser unerbittlichen Aushebung auf sich hatte. Man glaubte dem Versprechen des Gesetzes; man glaubte, daß die Rekruten nur vier Jahre zu dienen hätten. Später wußte man, was man zu denken hatte. Von den einmal Ausgerückten kam nie auch nur ein Einziger zurück, sofern ihn nicht etwa eine Verstümmelung zum Dienste untauglich machte.

Endlich hörte ich einen lauten Schrei im Innern des Hauses. Tonietto trat heraus, verstörten Blickes. Kurz sagte er seinen Eltern, die ihn erwarteten, „Lebewohl,“ bat sie, ihn nicht zu begleiten, und ging – allein.

Der arme Bursche wußte, was seiner harrte; ich wußte es auch und folgte ihm. Ich ließ ihm Zeit, sich etwas zu beruhigen, dann näherte ich mich ihm; so gingen wir zusammen. In der Stadt angekommen, reichte er mir die Hand, zwei große Thränen rollten seine Wangen herab. Aber sogleich, als ob er sich seiner Schwäche schäme, runzelte er die Stirn, nahm eine ruhige Miene an und sprach von etwas Anderem.

Ich wollte den Unterpräfecten aufsuchen, mit dem ich etwas bekannt war, aber er wollte es nicht. In eignem Namen verlangte er Gehör und wurde vorgelassen.

„Ich bin Tonietto M ,“ sagte er; „vor drei Tagen habe ich die und die Nummer gezogen, und mich etwas schwer entschlossen, mich zu stellen. Offen gestanden, ohne die Gefahr, der ich meinen Vater und meine Brüder aussetzte, wäre ich vielleicht nie gekommen. Sei’s d’rum, – hier bin ich!“

Ich trat vor, und gab ihm und seinem Charakter das beste Zeugniß. Der Unterpräfect war ein wohlwollender Mann; er ließ den Gensd’armeriewachtmeister kommen und sprach mit ihm über Tonietto. „Ich werde thun, was irgend möglich ist,“ erwiederte dieser, als er das Zimmer verließ.

Dann winkte er Tonietto und brachte ihn nach seinem Quartier. Als ich Abschied von ihm nahm, beschwor er mich bei Allem, was mir lieb und theuer sei, seine Eltern und Maria zu verhindern, ihn nochmals zu sehen oder gar ihn zu begleiten.

Von den Gensd’armen hörte ich, daß er am folgenden Tage abmarschiren werde. So eilte ich nach dem Dorfe zurück. Ich fand Maria bei den Eltern Tonietto’s.

Alle seine Worte mußte ich ihnen wiederholen. Aber Maria rief: „Noch Morgen früh gehe ich hin!“

„Du kannst ihn doch nicht mehr sehen,“ wandte ich ein.

„So ist er im Gefängniß?“

„Ich glaube nicht; aber er will nicht, daß Du ihn abmarschiren siehst.“

„So gehen sie also Morgen schon?“ rief sie in Verzweiflung.

Dann hatte sie an Jeden tausenderlei Fragen, bis sie endlich erfuhr, wie die Renitenten transportirt würden. Da verstand sie Alles und schwieg.

Am folgenden Morgen, in aller Frühe, ging sie weg, einen kleinen Korb am Arme, damit man glauben sollte, sie ginge zu Markte. Aber Niemanden täuschte ihre arme List; Niemand zweifelte, daß sie Tonietto sehen wolle.

Sobald ihre Brüder davon hörten, eilten sie nach der Stadt;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_246.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)