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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

war, „schlechte Auspicien für diesen Abend,“ und er deutete auf die menschenleere Theaterkasse, an welcher der Kassirer fröstelnd saß und abwechselnd mit einigen Schillingen klimperte oder die dicken blauen, rothen, gelben Billetstöße, welche vor ihm aufgethürmt lagen, durch die Finger gleiten ließ, „es sind kaum vierhundert Menschen im Parterre und den Logen. – Noch einmal Mr. Carey, sehr schlechte Auspicien das – ein Römer würde umkehren.“ Der junge Schauspieler antwortete nur durch ein Zucken mit den Schultern, welches man auf sehr verschiedene Weise deuten konnte und stieg dann mit dem Regisseur die enge, steile Treppe hinauf, die zu den Ankleidezimmern der Schauspieler und Schauspielerinnen führte. Hier begegnete ihm der Director.

Senatus non frequens, Mr. Carey,“ sagte er übellaunig zu dem Debütanten, „oder auf gut englisch ausgedrückt: es ist verdammt wenig Publikum da und wird heute bei dem Nebel und Schneeregen, der draußen niederrieselt, auch wohl nicht zahlreicher werden, als bis nach acht Uhr, wenn die ehrenwerthen Gentlemans auf Halbsold die Gallerien einnehmen.“ Und er lachte über diesen seinen Witz, wobei man, um ihn zu verstehen, wissen muß, daß es bei den londoner Theatern Sitte, nach den ersten Acten, also vielleicht gegen halb neun Uhr, das unbemitteltere Publikum um den halben Eintrittspreis auf die Gallerien zu lassen, und dieses Publikum, meinte der Director, als er von den „Gentlemans auf Halbsold“ sprach.

Mr. Carey gab ihm dieselbe Antwort, die er dem Regisseur gegeben, das heißt, er zuckte stumm mit den Schultern, und nur erst als der Director noch einmal die Besorgniß aussprach, daß heute ein sehr schlechter Abend für die Kasse werden würde, antwortete der junge Schauspieler aus der Provinz mit einem gewissen unmuthigen Stolz und blitzendem Auge: „Seien Sie unbesorgt, Sir, wenn sie heute nicht kommen, so werden sie morgen oder übermorgen kommen, um mich den Shylock oder Othello, den Hamlet oder Macbeth spielen zu sehen,“ und mit diesen Worten trat er in sein enges Ankleidezimmer, um das in dem Paquet befindliche Kostüm anzulegen; der Director aber, der sich durch die stolze, zuversichtliche Antwort etwas frappirt fühlte, murmelte zwischen den Zähnen und zu dem Regisseur gewendet: „Mr. Carey wird heute Abend um zehn Uhr sehr kleinlaut sein, wenn er statt mit Kränzen und Blumen mit faulen Eiern und Aepfeln von den Gallerien bombardirt wird, aber es ist ein altes Sprüchwort: Hochmuth kommt vor dem Fall, und dieser junge Mann scheint mir außerordentlich hochmüthig zu sein. Beliebt’s, Mr. Smith?“ Und er reichte dem Regisseur seine Schnupftabaksdose von Schildkrot.

Es klingelte – das Zeichen des Beginns der Vorstellung – und die Gardine rollte empor. Wer, der sich irgend mit der dramatischen Literatur beschäftigt, kennt nicht Shakespeare’s Kaufmann von Venedig mit der Gestalt jenes Shylock, in welchem der Dichter den ganzen wilden, fanatischen Haß der verfolgten und unterdrückten jüdischen Nation gegen ihre Unterdrücker, die Christen, zu personificiren suchte? Shylock ist ein reicher, jüdischer Geldmäkler, dem durch einen von Antonio, dem Kaufmann von Venedig, ausgestellten und am bestimmten Verfalltag nicht eingelösten Schein – Antonio hatte sich nämlich selbstschuldnerisch für ein von Shylock an einen Dritten, Bassanio, gegebenes Darlehn verbürgt – das Recht wird: aus dem Leibe des Antonio ein Pfund Fleisch zu schneiden, und der so lange auf diesem, seinem Recht besteht, bis er durch die kluge Interpretation der reizenden Porzia, welche die Maske eines gelahrten Doctor der Rechte aus Padua annimmt, dahin gebracht wird, freiwillig auf sein ihm durch den Schein gegebenes Recht zu verzichten. Dies ist, in möglichster Kürze ausgedrückt, der wesentlichste Inhalt der Fabel. Die Darstellung dieses Charakters, dieses fanatischen, rachedürstenden Juden Shylock, der zwar sein Gold und seine Edelsteine liebt, aber noch mehr die Christen haßt, war von jeher immer ein Prüfstein für die englischen Schauspieler, und in der Auffassung der Rolle wichen sie eben so von einander ab, wie die deutschen Darsteller z. B. in der Auffassung des goethe’schen Mephistopheles, den Seydelmann, Döring oder Hoppé von sehr verschiedenem Standpunkt aus auffaßten und darstellten. – Seit John Philipp Kemble jedoch, diesen großen Schauspieler Englands, war es Regel geworden, den Juden Shylock als einen alten, hageren, durch die Last der Jahre gebeugten, grauköpfigen Wucherer darzustellen, dessen Seele vor Allem nach dem gelben Metall dürstet. In dieser Maske hatte ihn der große Kemble dargestellt, und Publikum wie Acteurs beugten sich vor dieser Autorität. – Es ist in der Schauspielkunst, wie in jeder anderen; sie hat gewisse ehrwürdige Traditionen, die Niemand ungestraft verletzen darf – außer dem schöpferischen Genius, der Kraft eigener, souverainer Machtvollkommenheit, Autorität und Traditionen über den Haufen wirft und seine eigene Schöpfung dafür an ihre Stelle setzt.

An eine Coulisse gelehnt, wartete Mr. Carey indessen ruhig auf sein Stichwort. In dem Augenblicke, wo er vor die Lampen treten sollte, kam der Director, der ihn im Ankleidezimmer gesucht, um ihm noch einige gute Rathschläge für das erste Auftreten vor dem Publikum von Drury-Lane zu geben. Aber tief erschrocken, schlug er die Hände zusammen, als er das Kostüm des Debütanten erblickte. „Gerechter Himmel! Sind Sie denn des Teufels, Mr. Carey?“ rief er endlich, „eine schwarze Lockenperrücke, wie ein Doctor promotus der Universität Oxford oder Cambridge und einen Bart wie ein Moskowiter! Wissen Sie denn nicht, Mr. Carey, daß nach des großen John Philipp Kemble Schule der Shylock als alter, weißbärtiger, silberhaariger, vertrockneter Wucherer in abgeschabtem Talar erscheinen muß, während Sie –“

Aber Mr. Carey hörte schon lange nicht mehr auf den predigenden Director. Sein Stichwort war gefallen, und er stand vor den Lampen, auf den weltbedeutenden Bretern. Aber welche Verwandlung war mit Shylock vor sich gegangen? Das war nicht der alte, traditionelle, durch die Last der Jahre gekrümmte Shylock, der silberhaarige Wucherer des John Kemble, in abgeschabtem Talar und mit wildfunkelndem Auge, wenn von Gold und Zinsen gesprochen wurde sondern ein Mann in, gereiftem Mannesalter, dem das schwarze Lockenhaar noch dicht um die Stirn fiel, ein Mann in staatlichem, jüdischen Rockelor, mit glühendem, flammendem Auge, wenn er vom Erbfeind seines Stammes, von seinen und seines Volkes Bedrückern, den Christen, sprach. – Erstaunt, frappirt blickte das Publikum auf diesen Shylock, dessen äußere Erscheinung schon so ganz im Widerspruch mit der Tradition des Theaters stand, und ein leises Zischeln durchläuft das Parterre und die Logen. Doch bald verstummt es, und fast bestürzt und verblüfft saßen die Zuschauer da, als der Darsteller allmälig die wilde Energie seiner leidenschaftlichen Natur entwickelt und aus dem alten jüdischen Wucherer, der sich um Zins und Zinseszinsen müht, den unterdrückten Juden schuf, in dessen Brust glühender Haß gegen die Christen kocht, die seinen Stamm verfolgt und zertreten. Ein Schauer flog durch die Versammlung, als sie ihn mit dem Ausdruck des tiefsten, grimmigsten Hasses die Worte sprechen hörten:

„Wie sieht er einem falschen Zöllner gleich!
Ich haß’ ihn, weil er von den Christen ist;
– – – – – – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Wenn ich ihm ’mal die Hüfte rühren kann
So thu’ ich meinem alten Grolle gütlich.
Er haßt mein heilig Volk, und schilt selbst da,
Wo alle Kaufmannschaft zusammenkommt,
Mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn,
Den er nur Wucher nennt. – Verflucht mein Stamm,
Wenn ich ihm je vergebe!
Wenn ich ihm je vergebe!(I. Akt. 3. Scene.)

Das Publikum schwieg. Keine Hand regte sich, still war es, wie in der Kirche, und die Zuschauer so hingerissen von der Originalität und Neuheit dieser Auffassung, daß sie Beifall zu klatschen oder zu zischen und zu pfeifen vergaßen. Am Mächtigsten aber wirkte dieses Spiel auf die Massen der untern Volksklassen, die man nach acht Uhr um den halben Preis eingelassen und die in dichter Menge auf den Gallerien standen. Mit einer gewissen, sympathetischen Bewunderung betrachteten sie diesen wilden leidenschaftlichen Schauspieler, der so ganz aus der Sphäre des herkömmlichen Conventionellen heraustrat und mit so gewaltigen Mitteln und tiefem, mächtigen Erfolg an das Gefühl, an die Leidenschaft appellirte.

Plötzlich aber löste sich der Zauber; ein donnernder Beifall brach aus allen Seiten des Hauses los, von den Gallerien, wo die Arbeiter, die einfachen, schlichten Männer des Volks standen, wie aus den Logen, wo die fashionablen Dandy’s und eleganten, vornehmen Lady’s saßen und statt der verfaulten Eier und Aepfel, von denen der Director gesprochen, fiel ein wahrer Regen von Blumen, Kränzen und Sträußern auf die Bühne und an den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_307.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)