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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Therese hob hastig ihre Hände empor und riß die Binde von ihren Augen fort.

Eine athemlose Stille herrschte in dem Saal, alle Herzen klopften angstvoll, mit glühender Neugierde waren alle Blicke auf dieses bleiche, junge Mädchen gerichtet, das da mit weit geöffneten Augen auf der Estrade stand und starr und unverwandt auf Mesmer hinschaute, der unbeweglich ihr gegenüber stand.

Jetzt hob Therese die Hand empor und deutete auf Mesmer hin. „Wie,“ rief sie mit einem Ausdruck tiefen Entsetzens, „ist das das Bild eines Menschen?“[1] Mesmer antwortete nicht, er nickte nur mit dem Kopfe; seine Arme auf die Hüften stützend, ließ er seinen Körper allerlei schwankende Bewegungen machen.

Therese stieß einen Schrei aus und fuhr zurück. „Das ist fürchterlich zu sehen!“ rief sie entsetzt. „Dies Menschenbild wird über mir zusammenstürzen. Wo ist Mesmer, zeigt mir Mesmer!“

„Ich bin es,“ sagte Mesmer, sich ihr nähernd.

Sie zuckte zusammen und betrachtete ihn lange mit prüfenden trüben Blicken. „Ich glaubte, ein Menschenantlitz sei strahlend wie das Glück,“ sagte sie, „und dies Gesicht, dünkt mich, sieht aus wie der verkörperte Schmerz. Sehen alle Menschen so aus? Wo ist meine Mutter?“

Frau von Paradies hatte nur auf den Ruf ihrer Tochter gewartet. Sie kam mit ausgebreiteten Annen, ihr Antlitz überströmt von Freudenthränen zu ihr herangeeilt.

Aber Therese warf sich nicht in ihre Arme, sie stieß einen Schrei aus, und verhüllte sich mit beiden Händen das Gesicht.

„Therese, mein geliebtes Kind,“ rief ihre Mutter zärtlich, „sieh mich an, schau in meine Augen und erkenne darin die Liebe einer Mutter.“

„Ja, das ist die Stimme meiner Mutter,“ rief Therese freudig, indem sie ihre Hände wieder von ihrem Antlitz gleiten ließ. Ihre Mutter stand neben ihr und schaute sie lächelnd an.

„Du, Du bist meine Mutter?“ flüsterte Therese. „Ja, ja, ich erkenne Dich, ich kenne diese Augen, sie sehen aus wie eine verklärte Thräne der Liebe! O, Mutter, laß mich Dich anschauen und zu Deinen Augen beten!“

Frau von Paradies neigte ihr Haupt vorwärts, um ihre Tochter zu küssen, aber wieder fuhr Therese mit einem Aufschrei des Entsetzens zurück und verhüllte ihr Gesicht.

„Weshalb drohst Du mir so fürchterlich?“ fragte sie angstvoll. „Geh zurück, Du wirst mir mit dem entsetzlichen Ding die Augen ausbohren.“

„Womit, Therese?“ fragte ihre Mutter erstaunt. „Sieh mich an und sage mir, was Dich in meinem Antlitz erschreckt!“

„Blicken Sie empor und schauen Sie Ihre Mutter an, Therese,“ befahl Mesmer.

Sie gehorchte dieser Stimme, welche ihr Herz erbeben machte, und ließ ihre Hände von ihrem Antlitz gleiten.

„Nun sage mir, was Dich erschreckt hat,“ bat Frau von Paradies.

Therese hob ihre Hand empor und deutete schüchtern auf die Nase ihrer Mutter.

„Das da,“ sagte sie, „was ist das?“

„Das ist meine Nase,“ rief ihre Mutter lächelnd, und durch den ganzen Saal hörte man jetzt das melodische Rauschen eines frohen Lachens.

„Diese Nasen sind fürchterlich in dem Menschengesicht,“ rief Therese entsetzt. „Es kommt mir vor, als wenn sie mir entgegen drohten und mir meine Augen ausstechen wollten*.“

„Ich will Ihnen das Bild eines drohenden Menschen zeigen, Therese,“ rief Mesmer, indem er eine solche Stellung annahm, und mit geballten Fäusten, mit blitzenden Augen, mit fest aufeinander gepreßten Lippen zu ihr heranschritt.

Therese brach zusammen und stürzte auf ihre Knie nieder. „Sie werden mich tödten,“ schrie sie entsetzt.

Diese Scene, zugleich so einfach und so dramatisch, machte auf alle Anwesenden einen überzeugenden Eindruck. Selbst der gelehrte Professor Barth ließ sich hinreißen von der Gewalt des Momentes.

„Bei Gott, das ist keine Täuschung, sie kann sehen,“ rief er.

„Wenn das Herr Professor Barth sagt, so wird wohl Niemand es mehr zu bestreiten wagen,“ gegenredete Mesmer, laut genug, um von Jedermann im Saal verstanden zu werden.

Der Professor runzelte finster seine Stirn und gab sich das Ansehen, die Worte Mesmer’s gar nicht gehört zu haben. Er bereute schon, was er gesagt, und hätte, trotz seines bekannten Geizes, jedes seiner Worte mit einigen Ducaten zurückkaufen mögen. Aber es war zu spät, alle Anwesenden hatten sie vernommen, und Jeder flüsterte es froh dem Andern zu: „Auch Professor Barth ist jetzt überzeugt. Auch er gesteht zu, daß Therese sehen kann. Mesmer ist in Wahrheit ein Wunderdoktor!“

Therese indeß hatte jetzt auch ihren Vater und ihre nächsten Verwandten begrüßt. Aber sie, welche während ihrer Blindheit immer ein so zärtliches, liebevolles Wesen gegen alle ihre Angehörigen gezeigt, hatte jetzt gegen sie Alle ein kaltes, fast zurückstoßendes Benehmen.

„Ich wußte es wohl,“ seufzte sie traurig, „ich wußte es, daß das Sehen mich nicht glücklicher machen könnte. Ich sah Euch Alle mit meinem Herzen und ich liebte Euch! Jetzt, wo ich Euch sehe mit meinen Augen, bebt mein Herz zurück und entsetzt sich vor all’ den traurigen Geheimnissen, die mir Eure Gesichter verrathen. Ach, ich glaube, um die Menschen recht lieben zu können, muß man blind sein! Aber,“ fuhr sie lebhafter fort, „weshalb entzieht Ihr mir Bello, meinen Liebling. O, laßt mich meinen treuen Hund sehen, er ist so lange mein Führer in meiner Blindheit gewesen, laßt mich ihn sehen!“

Bello, der große schwarze Bernhardinerhund, hatte längst an der verschlossenen Thür eines Nebengemaches, die Nähe seiner Herrin witternd, laut gebellt und gewinselt.

Frau von Paradies eilte jetzt hin, die Thür zu öffnen, und sofort stürzte der Hund mit langen Sätzen zu Theresen hin, um zu ihren Füßen niederzukauern und ihre Hände zu lecken.

Therese neigte sich lächelnd zu ihm nieder und hob seinen Kopf empor. Das kluge Thier, als errathe es den Wunsch seiner Herrin, legte seinen Kopf auf ihre Knie und schaute mit seinen großen, dunklen Augen klug und verständig zu ihr empor.

Therese streichelte sanft sein glänzendes schwarzes Fell. „Dieser Hund,“ sagte sie sinnend, „dieser Hund gefällt mir weit besser als ein Mensch. Es liegt so viel Güte und Wahrheit in seinen Augen, und sein Hundekopf erschreckt mich lange nicht so sehr als ein Menschenangesicht[2].“

„Ich denke, wir könnten uns jetzt von dannen begeben,“ brummte Professor Barth, „das Schauspiel ist zu Ende, und jetzt werden die lieben Verwandten und Freunde nichts Eiligeres zu thun haben, als dem Autor und der ersten Liebhaberin zu applaudiren. Ich sehe für mich keine Verpflichtung ein, dabei zu sein!“

„Ich auch nicht,“ stimmte Doctor Ingenhaus bei, indem er sich anschickte seinen Herrn Collegen zu begleiten. „Ueberdies fühle ich mich etwas verwirrt im Kopfe von all’ den Gedanken, die dieser verteufelte Doctor darin zerbröckelt hat. Lassen Sie uns gehen!“

„Nehmen Sie mich mit,“ sagte Pater Hell, ihnen folgend. „Ich muß wirklich nachsehen, ob der Zauberer keinen Planeten vom Himmel gestohlen hat, mit dessen Hülfe er dieses Wunder hier zu Stande gebracht!“

Die drei Herren durchschritten gravitätisch, und ohne sich zu verabschieden, den Saal, um sich hinweg zu begeben. An der Thür trafen sie den Grafen von Langermann, den Kammerherrn der Kaiserin.

„Ah, Sie machen es wie ich, meine Herren,“ redete der Graf sie an, „Sie enteilen dem Zaubersaal, um die Wunder, die Sie erschaut, Ihren Freunden mitzutheilen. Ganz Wien wird heute und morgen von nichts Anderem sprechen als von der glücklichen Heilung der schönen Therese von Paradies. Niemand wird jetzt mehr zweifeln können, da unser berühmter Professor Barth selber die glückliche Heilung constatirt hat. Ich werde mich beeilen, das der Kaiserin mitzutheilen, und Ihro Majestät wird sehr erfreut sein, ihren Schützling genesen zu wissen.“

„Sie können der Kaiserin auf alle Fälle mittheilen, daß wir eben eine sehr gut gespielte Theaterscene erlebt haben, Herr Graf,“ sagte Professor Barth verdrießlich.

„Eine Theaterscene?“ fragte der Graf verwundert. „Aber die Heilung des blinden Mädchens ist indeß doch eine Wahrheit, und Sie selber haben das vorhin bestätigt!“


  1. Theresens eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 63.
  2. Theresens eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 63.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_315.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2019)