Seite:Die Gartenlaube (1856) 326.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

der ersten Reihe des Zuschauerraums Platz genommen. Als er jetzt den Herrn von Paradies erblickte, der in den Saal getreten war, mit vergnügtem Gesicht das zahlreiche Publikum überschauend, und sich den reichen Gewinn dieses Abends berechnend, stand Professor Barth auf und ging zu ihm hin.

„Sie sind also noch immer überzeugt, daß Ihre Tochter wirklich sehen kann?“ fragte der Professor.

„Nun, ich denke, Sie sind es eben so gut wie ich,“ sagte Herr von Paradies lächelnd. „Waren Sie nicht zugegen als Theresen zum ersten Mal die Binde abgenommen ward, gaben Sie nicht laut und öffentlich Zeugniß ab, daß sie wirklich sehend sei?“

„Ja, ich machte mir den Spaß,“ rief Herr Barth lachend, „wollte sehen, wie weit die Leichtgläubigkeit der Menschen gehe, wollte auch durch mein Zeugniß den Herrn Mesmer sicher machen, um ihn nachher desto sicherer zu fangen. Und ich denke, es ist mir gelungen, man erzählt sich schon allerlei seltsame Geschichten von Ihrer Tochter, welche gerade nicht dafür sprechen, daß sie besser sehen kann wie früher. Hat sie nicht vor einigen Tagen, als man ihr eine Blume zeigte, gemeint, daß sei ein gar schöner Stern? Und hat sie nicht auch, obwohl sie sehen kann, mit der Nadel, die sie zum Haar ihrer Mutter führen wollte, sich in die Wange gestochen?“

„Allerdings, dergleichen kommt vor,“ sagte Herr von Paradies lächelnd, „aber das gerade spricht für ihr Sehen. Sie ist noch wie ein junges Kind, das die Namen der Dinge, die sie umgeben, nicht kennt und sie oft verwechselt; auch hat sie noch keinen Begriff von Entfernungen, und die entfernten Gegenstände scheinen ihr oft nahe, daß sie nach ihnen greift, die nahen so entfernt, daß sie gerade auf sie zugeht und sich an ihnen stößt. Aber das Alles wird sich durch die Uebung verlieren, und wenn Therese, wie das bald geschehen kann, ganz allein durch die Straßen geht, so wird wohl Niemand mehr zweifeln, daß sie sehen kann.“

„Sie also sind fest davon überzeugt?“

„Ja, ich bin fest davon überzeugt!“

„Es ist von Ihnen wahrhaft großmüthig, dies so offen zu bekennen,“ sagte Professor Barth, ihn starr ansehend. „Dies Bekenntniß wird Ihnen viel Geld kosten!“

„Wie,“ fragte Herr von Paradies erschrocken, „wie kann es mir Geld kosten, wenn Therese sehen kann?“

„Nun, das ist ganz einfach,“ sagte Professor Barth gleichgültig. „Haben Sie, oder vielmehr hat nicht Ihre Tochter eine Pension von der Kaiserin?“

„Gewiß, und eine sehr bedeutende.“

„Nun, diese Pension werden sie natürlich verlieren,“ fuhr Professor Barth fort, indem er mit Vergnügen das plötzliche Erblassen und Zittern des Herrn von Paradies bemerkte. „Die Kaiserin hat diese Pension an Ihre Tochter gegeben, weil sie blind war, jetzt, da sie sehen kann, bedarf sie dieser Pension nicht mehr, weil sie nun selber für sich sorgen kann. Eine Pension, welche nur der Blinden bewilligt worden, kann der Sehenden nicht zu Gute kommen! Ich selber habe heute bei dem zweiten Leibarzt Ihrer Majestät, dem Herrn von Störk, darauf angetragen, daß, wenn sich heute das Sehen Ihrer Tochter bestätigt, Herr von Störk die Kaiserin ersucht, ihr die Pension zu entziehen, um sie einer andern Bedürftigen zuzuwenden.“

„Aber wissen Sie,“ sagte Herr von Paradies entsetzt, „daß Sie dadurch mich und meine ganze Familie in’s Elend stürzen würden? Wir haben nichts als diese Pension, und sie ist groß genug, daß wir anständig von ihr leben können. Wenn uns dieselbe entzogen wird, sind wir Bettler!“

„Pensionen können doch nur Solchen bewilligt werden, die sich entweder um den Staat verdient gemacht oder durch unverdientes Unglück Ansprüche auf eine Staatsunterstützung haben. Der erstere Grund ist bei Ihnen nie vorhanden gewesen, der zweite Grund fällt weg, sobald Ihre Tochter nicht mehr blind ist. Sie ist durch die Gnade der Kaiserin zu einer Künstlerin ausgebildet, und damit ist ihr ein Kapital gegeben, das sie jetzt verwerthen kann. Sie wird Unterricht ertheilen und Concerte geben.“

„Aber es ist unmöglich, davon mit einer Familie zu leben,“ sagte Herr von Paradies ängstlich.

„Sie werden vielleicht nicht so bequem und anständig leben können, wie von der großmüthigen und großartigen Pension der Kaiserin, aber enfin, Sie werden wenigstens das Nothdürftigste haben und nicht zu verhungern brauchen. Die kaiserliche Pension aber bekommt eine arme blinde Gräfin, die ich seit einiger Zeit behandele, und die nach meiner Meinung ebenso unheilbar blind ist, wie Ihre Tochter es war. Ich habe Alles mit dem Herrn von Störk verabredet. Schon morgen früh wird die Kaiserin die Pension, welche bisher das blinde Fräulein von Paradies erhielt, und die ihr jetzt nicht mehr zusteht, auf die blinde Gräfin Dalkeith übertragen, und diese, das versichere ich Sie, wird die Pension ihr Leben lang behalten, denn sie wird niemals daran denken, sich von Herrn Mesmer curiren zu lassen.“

„Aber, mein theuerster Herr Professor,“ flüsterte Herr von Paradies, „haben Sie doch Erbarmen mit mir, mit meiner ganzen Familie. Seit sechzehn Jahren haben wir diese Pension, und sie ist uns zugesichert für Theresens ganze Lebensdauer. Sie uns jetzt nehmen, heißt eine ganze Familie in’s Elend stürzen!“

„Wenn Ihre Tochter sehen kann, verliert sie die Pension, und meine Gräfin bekommt sie. Herr von Störk hat mir sein Ehrenwort gegeben, und die Kaiserin hat ihm noch niemals eine Bitte abgeschlagen, weil er niemals Ungerechtes bittet.“

„So sind wir also verloren,“ murmelte Herr von Paradies dumpf in sich hinein.

„Alles kommt darauf an, ob Ihre Tochter wirklich sehen kann,“ sagte der Professor mit scharfer Betonung. „Wenn sie blind ist, sind Sie gerettet, denn Sie behalten die Pension, und es ist möglich, daß Herr von Störk dann die Kaiserin bewegt, dieselbe noch ein wenig zu erhöhen, in Anbetracht der vielen Leiden und Täuschungen, die Sie und Ihre Familie erduldet haben. Nun, das Alles wird sich ja heute Abend noch entscheiden, und wir Alle werden dann wissen, was wir zu thun haben!“

Er grüßte Theresens Vater mit einem flüchtigen Kopfnicken und kehrte zu seinem Platz zurück, von wo aus er seine Blicke auf das junge Mädchen hinwandte, das bald darauf in den Saal trat.

Ein allgemeines Gemurmel, eine sichtbare Aufregung entstand in dem Publikum. Jedermann erhob sich ein wenig, um Therese anzusehen, die, obwohl man sie seit Jahren kannte, doch heute Alle als eine fremde, nie gesehene Erscheinung interessirte. Eine Blinde, welche alle Aerzte, sogar der berühmte Augenarzt Professor Barth, für unheilbar erklärt hatten, und die Mesmer jetzt durch seine bloße Berührung, durch das bloße Auflegen seiner Hand curirt hatte, das war wohl geeignet, Staunen und Neugierde zu erregen, und selbst das eleganteste Publikum in einige Aufregung zu versetzen.

Vielleicht war Therese sich dieses Eindrucks bewußt, den ihre Erscheinung erregte, denn während sie sonst, wenn sie als Blinde Concerte gab, leicht und lächelnd in den Saal getreten war, kaum geleitet von der Hand ihrer Mutter, schlich sie jetzt schüchtern mit niedergeschlagenen Augen, mit gebeugtem Haupt, linkisch in jeder Bewegung, langsam daher. Sonst hatte das Publikum, sobald Therese in dem Saal erschien, sie mit lautem Applaus begrüßt, heute empfing es sie schweigend, athemlos, in der Spannung der Neugier, alle gewohnte Freundlichkeit gegen die Künstlerin vergessend.

Mit staunendem Interesse sah man indeß wie Therese jetzt langsam den Raum durchschritt, welcher zwischen der Thür und dem in der Mitte des Saals aufgestellten Flügel sich befand. Vielleicht durch ein Versehen oder mit Absicht, standen drei Stühle dicht zusammengestellt, gerade in ihrem Weg. Therese umging sie mit Leichtigkeit, und kam an ihnen vorüber, ohne sie auch nur mit dem Saum ihres weißen Atlaskleides zu berühren.

Eine allgemeine Bewegung entstand in dem Saal. „Sie sieht wirklich! Sie ist wirklich geheilt! Sie ist nicht mehr blind!“ flüsterte und murmelte das Publikum unter einander, und mit erneuerter Theilnahme schaueten Alle wieder auf sie hin.

Drei Personen waren es indessen, auf welche dieses Beifallsgemurmel des Publikums einen ganz andern und verschiedenen Eindruck machte.

Professor Barth vernahm es mit innerer Wuth und legte seine Stirn in finstere Falten, Herr von Paradies erblaßte und fühlte sich von tödtlicher Angst ergriffen, Mesmer aber, welcher da drüben unweit des Flügels an der Wand lehnte, vernahm dieses Beifallsgemurmel mit unaussprechlichem Entzücken, und seine großen, leuchtenden, Augen wandten sich mit einem strahlenden Ausdruck des Glückes auf Therese hin.

Und wie von diesem Blick und diesem Anschauen bezaubert, schlug jetzt Therese von Paradies ihre Augen auf und wandte sie mit einem freudigen Ausdruck gerade hinüber auf Mesmer.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_326.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)