Seite:Die Gartenlaube (1856) 363.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Daß in London am 7ten und 14ten Juni die beiden ersten deutschen Concerte als solche von Deutschen gegeben und in beiden speciell deutsche Kompositionen mit deutschem Text als die eigentlichen Triumphe gerade allein stürmisch da capo verlangt wurden, diese Thatsache setzt auf englischem Boden eine sehr lange, tiefe und gründliche Vorschule und Entwickelung deutschen Wesens voraus und giebt den beiden musikalischen Festen die Bedeutung einer gewonnenen Kulturschlacht. Nach der unmittelbarsten Kunst der Musik kommen die substantielleren der „gefrornen Musik“ oder Architektur, der man schon einzelne und Reihen von Tempeln in neuen Stadttheilen errichtet, der Sculptur, Malerei und Poesie, für welche Pioniere und Priester aus deutschen Landen schon längst in England und Amerika vorgearbeitet haben.

Wir beabsichtigen keine musikalische Kritik über die beiden Concerte, sondern suchen nur, was darin germanisch Bedeutsames aufklang und triumphirend wirkte, in Wort und Schrift festzuhalten.

Am 7. Juni versammelten sich Englischvormittags 2½ Uhr in dem schönen Saale am St. James Park, Willis’ Rooms, unter der Patronage des Prinzen Eduard von Sachsen-Weimar um Herrn Moritz Nabich von der weimarischen Kapelle und seine mitwirkenden Freunde, die Herren Ries, Schachner, Hausmann, Werner, Pollitzer, Vogel, Pickeart und Rockitansky, so wie die gefeierten Damen Mad. und Madm. Rudersdorff zwischen einem Meere von blumigen Damenhüten und lockigen Gesichtern, darunter eine Menge verschollener und nur noch in trüber Erinnerung Deutschlands lebender Größen und Kleinigkeiten. Es war als sähe man einen Tag Deutschlands aus einem Jahre 40 wieder auferstanden. Hier tauchte aus einem Damenhutflore das feiste, gutmüthige Gesicht Freiligrath’s hervor. Nicht weit davon versteckte sich die Physiognomie des kleinen, eitel lächelnden Johannes Ronge, der sich immer noch für einen Johannes hält, obgleich sich Niemand so leicht von ihm taufen läßt (und dann ist der Getaufte auch noch lange kein Heiland). Als Contrast ragt dort riesig mit schimmelig gewordenem Barte der auf hohen Schultern sitzende Kopf Gottfried Kinkel’s. Wer ist das nicht weit links von ihm? „Corvin,“ heißt es, der ehemalige Commandant von Rastatt, der nur aus Zufall nicht erschossen ward. Der kleine Mann mit farbigem Bart und dem dünnen Gesichte dort war eine Größe in der berliner Nationalversammlung, der dicke, farmerartige Blonde nicht weit davon – in der Paulskirche. Dort ehemalige Helden der berliner, hier der wiener und anderer Pressen – alle verstreut und in den verschiedensten Berufsarbeiten und Missionen mit dem sie umdrängenden England verbunden – unter englischen Herren und Damen sitzend, deren weißgepuderte Diener draußen vor der Thür mit weißseidnen, wattirten Strümpfen in der Sonne glänzten.

Wir schildern das Concert nicht, nicht Spohr’s herrliches Quartett, nicht des Männerbasses Grundgewalt von Rockitansky, auch nicht die Virtuosenmeisterstücke des Concertgebers M. Nabich, der Madame Rudersdorff, selbst nicht Hausmann’s rührenden Gesang auf dem Violoncello. Nur das Bedeutende, Bleibende dieser rasch vorüberfließenden deutschen Töne versuchen wir festzuhalten, wie es das Publikum durch leidenschaftliche Dacapo’s versuchte. Ist es nicht bedeutend und eine große, schöne Lehre für alle Künstler, ein Sieg des deutschen Genius über das in eigner Brust treulose, disharmonische England, daß in beiden deutschen Concerten die einfachsten und nur die einfachen, deutschen Lieder zweimal verlangt wurden, zurückgerufen mit einer Begeisterung, einer Leidenschaft, wie nur irgend Jemand zum Augenblicke sagen kann: „Verweile doch, du bist so schön!“

O dieses „Waldvöglein“ von Lachner, gesungen von Madame Rudersdorff und von M. Nabich mit seiner berühmten Tenor-Posaune begleitet, war ein Ereigniß in der englischen Kunst- und Geschmacksgeschichte. „Das Vöglein hat ein schönes Loos!“ Die Sängerin bewies es durch die warmen, süßen Töne ihrer Stimme, der Concertgeber bewies es noch tiefgreifender, malerischer durch die zartesten, einfachsten, gezogenen Hauche auf seinem mysteriösen Instrumente, das vorher so erschütternd schmetterte und die Todten zum Weltgerichte erwecken zu wollen schien. Die Sängerin und der Instrumentalist, Beide wetteiferten, durch Zartheit, Naivetät und Einfachheit des Tones das schöne Loos des Waldvöglein in jedem Zuhörer gleichsam einheimisch zu machen: jetzt die aufjauchzende Freude seiner liederreichen Brust, dann den klagenden einsamen Liebesschmerz seines kleinen Herzens, die süße Erhörung im perlenden Thau des Maimorgens und sein Jubeln im vollen Chor aller Mitsänger des Waldes, seine mütterliche, unermüdliche Sorgfalt um ein piependes Nest voller Gelbschnäbel, noch mehr das schöne Loos, daß er von Deutschen componirt, gesungen und gespielt als Gesandter und Missionär eines an Schönheit und Poesie so weltreichen Volkes sich den ganzen, vollgedrängten Saal eines auserwählten Publikums in einem andern Lande unterwarf und gewiß mit einem einzigen Schlage Tausende von zarten Fingerchen und Kehlen bekehrte. Ich wette darauf, daß seitdem die Hälfte der anwesenden Damen mit Leidenschaft dieses deutsche Waldvöglein singen. Freilich diese nabich’sche Begleitung ist nur einmal möglich, nur aus diesem Instrumente, als dem Sprachrohre eines vollendeten Künstlers und edel, frisch und tieffühlenden Menschen. Solche Töne mit solcher Farbe, von solcher Innigkeit und Wärme werden dem bloßen Virtuosen, dem ausgebildetsten Techniker nie zugänglich. Dazu gehört der Lieder- und Schönheitsquell eines vollen, kräftigen, tieffühlenden Herzens.

Noch drastischer war der Sieg des deutschen Liedes und der deutschen Kunst in dem Concerte der Gebrüder Ganz aus Berlin in Hanover Square Rooms. Die beiden königlichen Concertmeister sind als Violin- und Violoncell-Virtuosen dem musikalischen Publikum in Deutschland zur Genüge bekannt, denn dafür giebt’s in Berlin seit einem halben Jahrhundert den Rellstab, ohne welchen kein musikalischer Künstler berühmt werden konnte, dafür giebt’s in Berlin fast eben so viele Musikkritiker, als Musiker. So vollendet die Gebrüder Ganz in ihrer Technik sind, als Missionäre der deutschen Poesie- und Kunstschätze im Auslande sind sie eben zu virtuosisch und kalt. Was wirken und erobern will auf diesem Gebiete, muß aus dem Urquell schöpfen und ein Herz dazu mitbringen. Als Totalität war aber das Concert mit Mlle. Rudersdorff, Clara Novello, Jenny Baur, Viardot Garcia und den Herren Formes, Reichardt und Benedict ein siegreich deutsches vor einem Publikum, das 40 namentlich auf den Zetteln genannte „Protektoren“ und Patroninnen aus den englischen Herzog- und Grafenständen und demnach die höchste Elite in sich schloß. Und solch’ eine concentrirte Virtuosität! Ich hörte Alles ruhig mit an, ohne etwas Anderes dabei zu fühlen, als gelegentliche Verwunderung, daß die Sängerin oder der Instrumentalist nicht den Hals dabei breche. Das Publikum klatscht dann auch in der Regel aus Freude, daß der Künstler glücklich durchkam, ohne den Hals und die. Beine zu brechen. Ich nehme nur Herrn Reichardt aus, der wirklich als ein Künstler sang, „dem Gesang gegeben“, Madame Rudersdorff und das kosmopolitische Genie Viardot Garcia. Es ward in allen Sprachen gesungen und Alles gebührend mit Beifall belohnt. Als aber die auf allen Bühnen und in allen Sprachen und Gesängen der Völker einheimische Garcia mit dem Goethe-Schubert’schen Erlkönig laut wurde, legte sich athemloses Schweigen des andächtigsten Hörens, über die ganze, glänzende Versammlung. Noch nie vernahm ich die Schönheit und konsonantische Malerei unserer geliebten deutschen Sprache so klar, so vollaustönend in jeden, einzelnen Laute und Mitlauter jedes einzelnen Wortes, als aus diesem berühmten, genialen Sängerinmunde. Und dieses dramatische Feuer des Ausdruckes. Der ängstliche Knabe, der rationell-beschwichtigende Vater, die verführerischen Lockungen des Erlkönigs und seiner Tochter – dieser Spuk nächtlichen Grausens in der Liederphantasie, sich plötzlich steigernd zur tödtlichen Gewalt in der, von keiner Reflexion und Naturwissenschaft bewaffneten Einbildungskraft des Kindes – das Alles trat deutlich und scharf in Ton, Ausdruck und Gestikulation hervor. Vor mir erhob sich das klassische Deutschland, das idealisirte Deutschland mit seinen unerschöpflichen Schätzen an Liedern und Tönen und klassischen Schöpfungen für alle Welt und alle Zeiten. Deutschland ohne Bayonnette und Polizei, ohne Ketten und Kerker, das schöne Deutschland mit seiner, mit meiner Muttersprache vor mir tönend und klingend. Ein heißes Heimweh zog mich aus England mit seinen verquetschten Tönen und kalten Gesichtern mit ganzem Herzen an den Busen dieses Landes meiner Muttersprache, mit einem ehemaligen Weimar, mit dem ewigen Dichter des Erlkönigs, mit so vielen unsterblichen Sängern und Priestern des Schönen, nach Deutschland, wo auch mir ein lieber, blondlockiger Knabe aus den Armen gerissen ward und von einer Macht, welche sich der Erlkönig gewiß nie an die Seite stellen lassen würde, so erbärmlich und poesielos war sie, nach Deutschland, wo dessen blondlockige Mutter ihre treuen, blauen Augen zum letzten Schlummer schloß. –

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_363.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)