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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Sie sang, sie sang und sprach endlich plötzlich „das Kind!“ Da war’s um allen Halt vor dem Publikum geschehen. Rücksichtslos stürzten heiße, trostreiche, lindernde Thränen aus den Augen und ließen sich nicht zähmen. Der glänzende, vollgedrückte Saal betrauerte den Tod des Kindes einige Secunden lang mit Todtenstille. Dann brach ein Sturm aus, wie ihn nur das entfesselte Herz großer begeisterter Massen losbrechen lassen mag. Der Erlkönig, und nur der Erlkönig, mußte vor dem englischen Publikum wiederholt werden. Die Hand eines theilnehmenden Herzens an meiner Seite suchte meine Thränen zu trocknen, aber das Auge bekam erst seine Kraft wieder und verlor seinen Thränenschleier, als es getröstet auf dieses von Deutschlands klassischem Genius warm gewordene und gewonnene Publikum umher sah. Ich war ja mitten in einem neugewonnenen Deutschland. Als aber Madame Rudersdorff hernach fragte: „Kennst Du das Land, wo die Citronen blühen?“ dacht’ ich immer wieder an das Land, wo Pflaumenbäume blüh’n und Herzkirschen schwellen und deutsche Herzen in der Sprache Goethe’s aufklingen und sich austönen.




Blätter und Blüthen.

Eine bekannte und doch unbekannte Krankheit. Es giebt eine Krankheit, die zwar hauptsächlich im Gemüth liegt, aber den Körper ebenfalls oft bedeutend angreift, und vorzugsweise Männer von feinem Gefühl und bedeutender Geistesthätigkeit in den mittleren Jahren befällt. Wir haben im Grunde keinen Namen für sie, ja die Leser haben vielleicht die Sache, die ihnen sicherlich bekannt ist, noch nie als Krankheit bezeichnen hören. Wir möchten sie die Vierzig-Jahre-Krankheit nennen. Wenn nämlich der gebildete Mann durch unablässigen Mühen, Sorgen und Denken jene Hochebene des Lebens erreicht hat, wie man die gewonnene feste Stellung in Amt und Geschäft wohl nennen kann, verliert der Trieb und Drang, der ihn bis dahin vorwärts brachte, allmälig seine Gewalt. Man vergönnt sich gelegentlich Zeit, zu Athem zu kommen und sich umzuschauen – rückwärts nach dem steilen Pfade, den man emporgeklommen und auf die neue nach vorn sich ausbreitende gleichförmige Fläche. Da fragt das Herz oder der Geist gar oft: „Und das war Alles? Darum habe ich mich so lange und so anstrengend gemüht? Der staubige, gleichförmige Weg vor mir der alleinige Lohn für mein Streben? Der Haufen Geld oder Aktien das einzige Resultat aller Anstrengungen, aller Hoffnungen der Jugend?“ Weltschmerz und Lebensüberdruß, Verstimmung, Ungeduld und Unruhe erfüllen das Herz und wirken störend auf den Körper ein, die Welt erscheint farb- und reizlos, alle Illusionen schwinden und der gewählte Beruf erregt Ekel. Dann und wann trägt wohl auch die Frau die Schuld dieser trüben Stimmung, indem sie mit Nichtachtung aller Ideale, die dem feinfühlenden Manne in der Brust leben, nur die schaffende, ja leider oft nur die grollende und schmollende Hausfrau zeigt, und damit eine Welt der Illusionen zerstört, für deren Verwirklichung der Mann lange mit Liebe und großem Fleiße gearbeitet. Zertretene Hoffnungen und nicht erfüllte Erwartungen machen ihn endlich wortarm und mißtrauisch, er zieht sich in sich selbst zurück und erscheint lieblos, wo er so gern durch freundliche Sorgfalt, durch sanftes Anschmiegen der Frau sich die düstern Stirnfalten glätten ließ und wieder der frohe, heitere Gesell von ehedem würde. Mit jedem Tage wird sein Wesen gemüthskarger, zugeknöpfter – sein Glück ist trotz Geld und Ehren ein armes, nicht beneidenswerthes.

Die Engländer sagen von einem solchen Kranken, er habe den Spleen, und in diesem nehmen sich bekanntlich gar manche das Leben; wir Deutsche erklären ihn mit Spott für einen Hypochondristen, statt ihn aufzurichten und für seine Genesung besorgt zu sein. Diese, meinen Viele, sei nur möglich durch ein Herausreißen aus Geschäft, aus Heimath und allen gewohnten Verhältnissen etc., durch eine größere Reife, welche durch allerlei neue Erscheinungen erfrische und kräftige, über den todten Punkt, wie man bei Maschinen sagt, hinweghebe, dem Herzen die Zeit gebe, für die weitere Wendung des Lebens sich zu sammeln, mit neuen Zwecken und Ansichten einen frischen Anlauf zu nehmen, und sich damit eine zweite Jugend zu schaffen, die dann ungeschwächt aushalte bis an’s – Ende. Möglich, daß eine solche Kur heilsam wird, obwohl wir oft genug das Gegentheil erfahren, aber wir meinen, daß ein kräftiges Schaffen und milde Freundes- und Frauenhand das Herausreißen aus den gewohnten Verhältnissen überflüssig und den Kranken auch mitten in seinen bisherigen Kreisen gesund machen können. Das unbefriedigte Gemüth dürfte in den meisten Fällen der alleinige Grund der „Vierzig-Jahre-Krankheit“ sein.




Echte Liebe. Horace Vernet erzählt in seinen Briefen aus Rußland folgende Geschichte, die sich während seines Aufenthaltes dort zutrug:

„Ein junger Mann aus der Umgegend Moskau’s, mit Namen M…, hatte sich sterblich in eine junge Zigeunerin verliebt. Er wollte sie heirathen, trotz der Gegenvorstellungen seines Vaters, der indeß Mittel fand, seinen Sohn auf einige Tage zu entfernen, während dieser Abwesenheit das junge Mädchen entführen ließ und sie an seinen Kutscher verheiratete, dem er Geld und die Freiheit schenkte. Nach der Hochzeitsnacht entfloh sie, erreichte das freie Feld und verschwand für Alle, ausgenommen für ihren Liebhaber, welcher sich stellte, als hätte er sie vergessen, und Dienste in der Garde nahm. Fünf Jahr lang blieb sie in einer Hütte verborgen, ohne daß man wußte, daß der junge Mann sie allnächtlich besuchte; er verheirathete sich sogar, um seine gänzliche Umwandlung zu zeigen. Doch seine legitime Frau, beunruhigt über das geheimnißvolle Leben ihres Ehemannes, entdeckte endlich die Intrigue und warf sich zu den Füßen des Kaisers, um die Bestrafung des Treulosen zu erlangen. Man entführte die arme Flüchtige von Neuem, um sie in Gewahrsam zu bringen, und trennte sie von ihren drei Kindern, welche sie niemals wieder sah. Vier Jahre lang ertrug sie alle Schmerzen und Demüthigungen, ohne sich zu beklagen, und lieferte dem Hause, das sie gefangen hielt, ein Beispiel der demüthigsten Ergebung. Den Liebhaber schickte man schleunigst nach dem Kaukasus, wo er sich augenblicklich noch befindet. Während der ganzen Trennungszeit konnte kein Briefwechsel zwischen den Liebenden stattfinden. – Doch ein eben von der Armee zurückgekehrter Offizier fand vor wenigen Tagen Gelegenheit, die junge Gefangene zu sprechen, und während der Unterhaltung machte er ihr begreiflich, daß sie das einzige Hinderniß der Rückkehr des Verbannten sei. Von diesem Augenblicke an war ihr Entschluß gefaßt. Sie fand Mittel zur Flucht, begab sich zur rechtmäßigen Frau des Verbannten und bat diese um Verzeihung, daß sie ihr einen Mann geraubt, welchen sie lieben müßte, da ja auch sie, die Unglückliche, ihn nicht vergessen könnte. Gleich darauf stürzte sie sich in einen der Kanäle. Nach dem, was sie zu der Frau ihres Geliebten gesagt haben soll, scheint sie ein Wesen von bewundernswürdiger Einfachheit und Erhabenheit gewesen zu sein. Sie war so schön, daß man sie den Besuchern des Hauses, in welchem sie eingeschlossen war, verbarg. Es sind noch einige Einzelheiten damit verbunden, die ich hier nicht mittheilen kann und welche die Geschichte sehr rührend machen.“




Chopin’s, des berühmten Virtuosen und Componisten Tod war ergreifend, wie es der frühzeitige Tod immer ist, der die Besten und die Schönsten in ihrer Jugend dahinrafft. Er fürchtete ihn nicht; er erwartete ihn mit einer Art bitteren Wonnegefühls; er war auf ihn vorbereitet. Er war schweigsamer als je geworden; seine Gleichgültigkeit gegen Alles um ihn her hatte den höchsten Grad erreicht. Die Kunst allein behauptete ihre Herrschaft; sie stirbt in denen, welche sie geliebt haben, gewiß zuletzt. Seine Schwester, die ihm, trotz der dauernden Trennung, die zärtlichste Anhänglichkeit bewahrt, eilte aus Polen zu ihm. Auch die Gräfin Delphine Potocka, eine der edelsten Frauen ihres Landes, kam, um ihm in der Sterbestunde beizustehen.

Nur wenige Stunden vor seinem Tode bemerkte er die große, schlanke, weißgekleidete Gestalt der Gräfin am Fußende seines Bettes. Er bat sie, zu singen. Die Gräfin sang unter Seufzern und Thränen. Nie war ihre Stimme so ausdrucksvoll gewesen. Sie sang einen Lobgesang auf die heilige Jungfrau. „Wie schön! o mein Gott, wie schön!“ sagte er. „Noch mehr, noch mehr!“ Sie setzte sich, auf das Tiefste ergriffen, wieder an das Piano und sang einen Psalm von Marcello. Chopin wurde schwächer; die Anwesenden waren in Angst. Unwillkürlich knieten sie Alle nieder; Niemand wagte es, zu sprechen. Die Stimme der Gräfin übertönte wie eine himmlische Melodie die Seufzer und das Schluchzen. Das Leben Chopin’s ging mit der heiligen Hymne zu Ende.

Er ruht jetzt inmitten der berühmten Todten auf den Höhen des Père la Chaise. Der schöne, aus den Händen Clesinger’s hervorgegangene Genius auf seinem Grabe, der melancholische Genius der Völker des Nordens, der seine Lyra zerbricht und seine marmornen Thränen auf das Grab weint, dieser schöne Genius schweigsamen Schmerzes wird für alle Zukunft das treueste Abbild Friedrich Chopin’s sein.


Erklärung und Bitte!

Wiederholt habe ich erklärt und erkläre es hiermit nochmals: „nur ein gewissenloser Charlatan oder ein unwissender Heilkünstler kurirt, ohne vorherige genaue Untersuchung des Patienten, aus der Ferne brieflich.“ Trotz dieser öfteren Erklärung gehen mir doch fortwährend Briefe mit Krankheitsbeschreibungen und Verlangen nach ärztlichem Rathe zu. Ich bitte deshalb die geehrten Leser meiner Aufsätze, sich und mich durch solche Briefe doch nicht weiter incommodiren zu wollen.

Prof. Dr. Bock.

Aus der Fremde“ Nr. 27 enthält:

Ein katholischer Missionär in Texas. – Die Hundestadt. (Mit Abbildung.) – Eine Engländerin in Persien. – Aus allen Reichen: Liebesgeschichten von der Goldküste in Afrika. – Vor einem Friedensrichter im fernen Westen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_364.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2021)