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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 31. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Spiele des Zufalls.
Novelle von August Schrader.
(Schluß.)

Rasch ging Cäsar in den Hof und sah das Schild und den Klingelzug. Er gab das Zeichen und eine Magd öffnete die Thür.

„Herr Doctor Nataß?“ fragte er.

„Ist zu Hause.“

„Kann ich ihn sprechen?“

„Er sitzt bei Tische.“

„Ich werde warten.“

Die Magd führte ihn in das Wartezimmer des Arztes. Hätte er gewußt, daß der Onkel in demselben Hause wohnte! Nicht zwei Minuten hatte der geängstigte Cäsar in dem Zimmer zugebracht, als die Glocke von Neuem gezogen ward. Gleich darauf ließ die Magd eine Dame eintreten. Es war die Landdrostin. Cäsar grüßte nachlässig die Dame, die ihm sehr ungelegen kam. Der Doctor Nataß war ein vielbeschäftigter Arzt, er mußte oft die Ankommenden warten lassen, wenn er ruhig essen wollte, Und so geschah es auch heute. Es verflossen zehn Minuten, dem Harrenden eine Ewigkeit. Die Landdrostin stand auf und setzte sich wieder. Dann ging sie ungeduldig in dem kleinen Zimmer auf und ab. Aber kennt denn Cäsar seine Schwiegermutter nicht? wird der Leser fragen. Die Landdrostin war allerdings Wilhelminens Mutter, und hieraus läßt sich das Interesse erklären, das sie an der jungen Frau nahm; aber Wilhelmine hielt Frau Bertram für ihre Mutter, bei der sie erzogen war, und Cäsar lebte derselben Ansicht.

Cäsar sah durch das Fenster in den Garten; die Landdrostin setzte sich in den Sopha und betrachtete die schlanke, aristokratische Gestalt des jungen Mannes. Es verfloß eine Viertelstunde, aber immer noch erschien der Doctor nicht. Da erhob sich die ungeduldige Dame wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, grüßte flüchtig und verließ das Zimmer. In diesem Augenblicke bemerkte Cäsar, daß ein gesticktes Portefeuille in dem Sopha lag. Ohne Zweifel hatte es die Dame verloren; er ergriff es, und wollte ihr nacheilen. Indem er einen Blick auf das zierliche Taschenbuch warf, erkannte er die Ränder einer Anzahl Banknoten, welche die schmale Decke nicht ganz verbergen konnte. Wie gelähmt blieb Cäsar stehen; er suchte Geld, Geld allein konnte ihn retten, und hier hielt er eine Summe in der Hand, die vielleicht mehr als hinreichend war, um seine gräßliche Noth zu beseitigen. Der Gedanke einer Veruntreuung machte ihn schaudern – aber war er nicht gerettet, wenn er den Fund nur einige Tage behalten konnte? Der arme Mann zitterte am ganzen Körper, während seine Augen starr auf den Hundertthaler-Banknoten hafteten.

„Ich gebe es morgen, übermorgen zurück!“ murmelte er. „Ich bezahle den elenden Rudolphi, rette meine Freiheit, meine Ehre und bewahre Wilhelminen vor einer Gemüthserregung, die ihr leicht den Tod bringen kann.“

Hastig verbarg er das Portefeuille und trat auf die Hausflur hinaus. Es war kein Mensch zu sehen. Die Thür ließ sich von innen leicht öffnen, und in der nächsten Minute stand Cäsar auf der Straße. Er entfloh, als ob er einen Mord begangen hätte. Sein Herz nahm stärkere, heißere Blutmassen auf, als früher in irgend einem Augenblicke seines Lebens, und strömte sie mit großer Gewalt wieder aus. Die widersprechendsten Gedanken durchtobten seinen Kopf, aber einer von ihnen beherrschte alle andern – es war der an Wilhelmine. Das Gewissen war nicht mächtig genug, die Besorgnisse der Liebe zu beschwichtigen. Er irrte durch die Promenade, bis er erschöpft an einem Baume stehen bleiben mußte.

„Ob die Summe wohl hinreicht?“ fragte er sich.

Zitternd holte er das Portefeuille hervor und sah um sich, um sich zu überzeugen, daß ihn Niemand beobachtete, und prüfte den Inhalt; er bestand aus sieben Hundertthaler-Banknoten. Das war genug. Er nahm vier Stück davon, steckte sie in sein eigenes Taschenbuch, und verbarg das Portefeuille in seinem Rocke. Dann eilte er in die Stadt, suchte und fand den Advokaten. Eine Viertelstunde später war er in dem Besitze des verhängnißvollen Wechsels und einer Summe, die ihn vor Mangel schützte.

„Was mir die Menschen verweigerten, hat mir der Zufall gewährt!“ flüsterte er vor sich hin, um sich zu beruhigen. „Jene Dame hat mir gegen ihren Willen siebenhundert Thaler geliehen. Sobald ich kann, zahle ich das Kapital sammt Zinsen zurück.“

Cäsar kam in seiner Wohnung an. Wilhelmine befand sich besser, sie erwartete ihren Mann, um mit ihm das Mittagsessen einzunehmen. Sie empfing ihn mit dem zärtlichsten Kusse, den eine liebende Gattin spenden kann. Als Cäsar die reizende Frau in seinen Armen hielt, als er ihr himmlisches Lächeln sah und ihre Lippen auf den seinigen fühlte, war die Reue über das, was er gethan, völlig verschwunden; er fühlte selbst, daß er sich Vorwürfe gemacht haben würde, wenn er anders gehandelt, wenn er die Gelegenheit hätte vorübergehen lassen, durch die er sich und seine Frau unabhängig von Rudolphi gemacht. In unruhiger Hast genoß er die Speisen, er trank mehr Wein als sonst. In einer Art Betäubung setzte er sich nach Tische in den Sopha. Wilhelmine nahm ihren Platz am Fenster ein, und begann zu sticken.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_409.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)