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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Bald war Cäsar in einen unruhigen Schlummer gesunken.

„Er muß krank sein!“ dachte die besorgte Gattin.

Cäsar hatte noch nie nach Tische geschlafen, aber heute hatte sich seiner nach der übergroßen Aufregung eine Abspannung bemächtigt, die dem Schlafe glich. Sein Geist fuhr fort, sich mit den stattgehabten Ereignissen zu beschäftigen.

Das Vergehen steht zu der Empfindsamkeit des Gewissens im Verhältnisse: es giebt Leute, die eine That für ein leichtes, zu entschuldigendes Vergehen halten, während dieselbe That bei andern die Ausdehnung eines Verbrechens annimmt. Zu den letzteren gehörte Cäsar. Die Stimme des Gewissens besiegte nach und nach die Sophisterei der Leidenschaft. Es erhob sich ein furchtbarer Kampf in seiner Seele.

„Nein, es ist kein Verbrechen!“ murmelte er im Schlafe.

Dann schwieg er wieder. Wilhelmine erschrak. Sie sah, wie bleich ihr Mann war, wie alle Muskeln seines Gesichts konvulsivisch zuckten.

„Ihn drückt ein Geheimniß!“ dachte sie. „Warum vertraut er mir nicht, daß ich es mit ihm theilen kann?“

„Rudolphi, Sie sind ein Elender, Sie haben mich zu einem Verbrechen getrieben!“ rief Cäsar, indem sein Gesicht den Ausdruck des Zornes annahm.

„Großer Gott!“ flüsterte Wilhelmine bestürzt, indem die Stickerei ihren Händen entsank. Dann stand sie auf und trat dem Schlafenden näher. „Sollte die Besorgniß um meine Gesundheit nicht der einzige Grund seiner Traurigkeit sein?“ fragte sie sich.

Cäsar’s hatte sich eine Art Delirium bemächtigt; er fuhr fort, laut mit sich zu sprechen.

„Noch ist es Zeit – ich kann das Portefeuille, das ich gefunden, zurückgeben – dann ist das Verbrechen von mir abgewälzt!“ murmelte er. „Heute noch, heute noch! Man kann mich erkannt haben! Soll Wilhelmine die Gattin eines Diebes sein? O Du mein Engel, die Schande wird Dich früher tödten, als die Krankheit! Ich besitze ja das Portefeuille noch – es steckt in der Brusttasche meines Oberrocks!“

Nach diesen Worten schauderte er heftig zusammen, als ob ihn ein Krampf befiele. Wilhelmine wollte ihn wecken; als sie aber sah, daß er wieder ruhig ward, unterließ sie es. Unter den geschlossenen Augenlidern des Schlafenden quollen Thränen hervor. Auch Wilhelmine begann still zu weinen bei dem Anblicke ihres armen Mannes, denn sie wußte, daß er nur aus Liebe zu ihr sich einer Verirrung schuldig machen konnte. Jetzt erinnerte sie sich der verletzenden Behandlung wieder, die sie von Rudolphi erfahren hatte; sie glaubte sich den Grund derselben erklären zu können. Es war nach ihrer Meinung nicht daran zu zweifeln, daß Elisens Gatte wußte, Cäsar hatte ein Portefeuille gefunden und behalten. Aber warum legte man auf diesen Fund ein so großes Gewicht? Enthielt das Portefeuille werthvolle Papiere?

Leise trat sie in das Schlafzimmer und untersuchte die Brusttasche des Oberrocks ihres Mannes, der auf einem Stuhle lag.

Außer drei Hundertthaler-Banknoten lagen einige kleine Papiere und eine Visitenkarte darin. Auf der Karte standen die Namen „Gottfried Christian Beck.“ Wilhelmine starrte das Blatt an. Sie erinnerte sich, daß Cäsar’s Onkel so hieß. Kein Anderer als er konnte demnach der Besitzer des Taschenbuchs sein. Aber hatte er es auch verloren? Wenn dies der Fall, so mußte er in Leipzig sein, und dies ließ sich annehmen, da sie dem Onkel einen Brief geschrieben hatte.

„Armer Cäsar,“ dachte sie, „wie es scheint, hast Du das Taschenbuch Deines Onkels gefunden, und Dein redliches Herz bereitet sich unnütze Sorgen! Aber sollte er die Karte nicht gelesen haben? Sollte er nicht wissen, wer der Eigenthümer des Portefeuilles ist?“ Neue Zweifel stiegen in ihr auf. Um diese zu beseitigen, gab es kein anderes Mittel, als Cäsar selbst zu fragen. Dann aber würde sie ihm zu erkennen gegeben haben, daß sie um ein Geheimniß wüßte, dessen Bewahrung ihm am Herzen lag. Sie kannte den Charakter ihres Mannes zu genau und vermochte die Folgen zu ermessen, die daraus entstanden, wenn sie sich als Mitwisserin dieser Verirrung zu erkennen gab. Sie beschloß, einen andern Vortheil aus diesem Zufalle zu ziehen. Nachdem sie einige Minuten überlegt, verbarg sie das Portefeuille in der Tasche ihres Kleides. Dann ging sie in das Zimmer zurück, um ihren Mann zu beobachten. Cäsar erwachte nach einer halben Stunde. Mit verstörten Blicken sah er um sich.

Nur mit Anstrengung vermochte er so viel Unbefangenheit zu erkünsteln, als nöthig war, um Wilhelminen den Zustand seines Innern zu verbergen. Die beiden Gatten blieben den ganzen Tag zu Hause. Um acht Uhr Abends ging Wilhelmine in die Küche zu der Magd.

„Ist ein Brief angekommen?“ fragte sie leise.

„Ja, gnädige Frau.“

Die Magd holte ein Couvert aus dem Küchenschrank. Wilhelnime, und Elise hatten nämlich einen Briefwechsel verabredet, der durch die Mägde besorgt wurde, um ihn den Männern geheim zu halten. Die junge Frau las:

„Theuerste Freundin!

„Der Senator Beck aus Bremen ist hier; er hat meinen Othello besucht und von ihm Erkundigungen über Ihren Mann eingezogen. Ich erinnere mich, daß Sie mir gesagt haben, der Senator sei mit Ihnen verwandt. Da mir nöthig scheint, daß Sie von diesem Umstand Kenntniß erhalten, habe ich nicht versäumt, Ihnen auf dem verabredeten Wege diese Zeilen zu senden. Mein Mann verschließt sich seit gestern in seinem Zimmer; wir hören und sehen uns nicht. Nächstens mehr von Ihrer  Elise.“

„Der Onkel ist hier, also gehört ihm das Taschenbuch mit dem Gelde!“ dachte Wilhelmine. „Wohlan, nun kann ich mein Versöhnungswerk vollbringen, und Cäsar’s Fund soll mir dabei behülflich sein.“

Cäsar war wirklich krank, er ging zeitig zu Bett. Schon früh am nächsten Morgen schickte Wilhelmine auf das Fremdenbureau, und ließ die Wohnung des Senators erfragen. Die Magd kam zurück. Auf dem Zettel war das Haus des Doctors Nataß angegeben, das, wie die junge Frau wußte, ganz in der Nähe lag.

Um neun Uhr trat Wilhelmine in das Zimmer ihres Mannes. Er stand im Schlafrocke am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Beide Gatten grüßten sich zärtlich wie jeden Morgen. Cäsar sah bleich aus, aber er schien ruhiger zu sein.

„Was mag dort angeschlagen sein?“ fragte er, indem er durch das Fenster auf die Straße zeigte.

Wilhelmine trat zu ihm und sah hinaus. Die Vorübergehenden blieben an der gegenüberliegenden Straßenecke stehen, und lasen begierig einen großen grünen Anschlagzettel.

„Man kündigt vielleicht eine neue Oper oder ein großes Concert an.“

„Ich möchte es wohl wissen!“ murmelte Cäsar.

„Deine Neugierde ist bald zu befriedigen. Ich werde die Magd abschicken, daß sie den Zettel liest.“

Sie ging hinaus. Die Magd, eine schon bejahrte Person, stand vor dem Herde.

„Rosine, an der Ecke unserer Straße klebt ein großer Zettel, – gehe und sieh’ nach, was man ankündigt.“

„Ich habe den Zettel schon gelesen, gnädige Frau.“

„Was kündigt man an?“

„Es ist eine gestickte Brieftasche mit siebenhundert Thalern verloren gegangen.“

„Mit siebenhundert Thalern?“ fragte erschreckt die junge Frau.

Rosine hielt dieses Erschrecken für Erstaunen.

„Ja, gnädige Frau. Und hundert Thaler Belohnung hat man dem ausgesetzt, der sie auf dem Polizeibureau abliefert. Ach, wäre ich die Finderin!“ rief seufzend die alte Magd, indem sie mit dem Blasebalge das Feuer anfachte.

Die junge Frau ging in ihr Zimmer und schloß die Thür hinter sich ab. Dann holte sie das Portefeuille aus dem Kasten ihrer Toilette, öffnete es und prüfte den Inhalt. Er bestand nur aus drei Banknoten hundert Thaler. Entweder war noch ein zweites Portefeuille verloren, oder Cäsar hatte vierhundert Thaler ausgegeben. Wilhelmine glaubte das Letztere annehmen zu müssen, da ihr Mann von einem Verbrechen gesprochen hatte, wozu ihn Rudolphi gedrängt haben solle. Und was konnte ihm außerdem Sorgen bereiten, wenn die Summe noch vollständig wäre? Er hätte in diesem Falle einfach das Gefundene zurückgeben können, und die Sache wäre abgemacht gewesen. Wilhelmine hatte bis jetzt an ein ausreichendes Vermögen ihres Mannes geglaubt – diese unglückselige Angelegenheit veranlaßte sie, das Gegentheil anzunehmen.

„Er ist arm,“ dachte sie, „und nun kann ich mir Manches erklären! Ist es möglich, so soll er nie vor mir erröthen – ich werde im Geheimen handeln! Seine Gemüthsstimmung erheischt die sorgfältigste Vorsicht.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_410.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2019)