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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

General Walker.


„Wir haben uns in dem Vorzimmer des Doctors gesehen, Herr von Beck.“

„Ganz recht, ich wollte ihn wegen meiner Frau befragen.“

„Halten Sie Wilhelmine wirklich für krank?“

„Sehen Sie denn nicht, wie bleich sie ist? Man muß sie länger beobachten, um ihren Gesundheitszustand zu begreifen.“

Während dieser Zeit hatte Wilhelmine mit dem Onkel leise geflüstert.

„Er ist Hypochonder,“ murmelte der Alte; „wir werden ihn bald heilen. Cäsar, ich habe mit Dir zu reden,“ rief er; „aber nicht in diesem Boudoir, sondern in Deinem Zimmer.“

Onkel und Neffe entfernten sich. Die beiden Frauen waren allein.

„Mein liebes Kind,“ begann die Landdrostin, „ich benutze diesen Augenblick, um mit Ihnen von Ihrer Mutter zu sprechen. So lange Sie denken können, befanden Sie sich bei Madame Bertram. Diese Frau aber war nicht Ihre Mutter, sondern nur Ihre Erzieherin. Vor einiger Zeit schrieb Ihr Mann an seine vermeintliche Schwiegermutter, und zeigte ihr an, daß Sie krank seien. Diese Nachricht erfüllte Ihre wirkliche Mutter mit um so größerm Schmerze, da sie durch den Tod Ihres Vaters erst jetzt im Stande ist, Ihnen ihre ganze Liebe zu widmen. Staunen Sie nicht darüber, denn Ihr Vater war der seltsamste Mensch der Erde – er setzte Zweifel in die Treue seiner Gattin und verstieß seine beiden Töchter. Aus Liebe zu ihren Kindern willigte sie in diese Trennung, denn sie war das einzige Mittel, den halb wahnsinnigen Herrn von Jasper abzuhalten, sein Vermögen einem Seitenverwandten zu vermachen. Wilhelmine, Ihre Mutter war nur vorsichtig, nicht hartherzig – hätte sie Ihren Aufenthalt früher gewußt, sie würde früher gekommen sein, um Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen ein großes Vermögen gerettet hat! Ich bin die Universalerbin des Herrn von Jasper, und die Welt kann nun erfahren, daß Sie – meine Tochter sind!“

Die junge Frau sank weinend in die ausgebreitetnn Arme der Landdrostin; Secunden verflossen, ehe sie eines Wortes mächtig war. Dann flüsterte sie hastig: „Sie sagten, ich habe noch eine Schwester?“

„Sie ist um drei Jahre älter, als Du. Leider kenne ich ihren Aufenthalt nicht, ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Mein Bruder, ein armer Schauspieler, ist seit langer Zeit mit ihr verschwunden.“

„Wie hieß Ihr Bruder?“ fragte Wilhelmine zitternd.

„Alexander Witt!“

„Alexander Witt war der Pflegevater meiner Freundin Elise – sie hat mir oft von dem armen Schauspieler erzählt, der sie gebildet hat. Ach, und ich wußte nicht, daß er der Bruder meiner Mutter, und daß Elise Rudolphi meine Schwester ist.“

„Meine älteste Tochter heißt Elise!“

„Sie ist die Gattin eines reichen Mannes.“

Nachdem der erste Erguß mütterlicher und kindlicher Liebe vorüber war, stellten die beiden Frauen ruhige Erörterungen an, und es unterlag keinem Zweifel mehr, daß Elise und Wilhelmine die Kinder der Landdrostin waren. Das Erstaunen Cäsar’s läßt sich nicht beschreiben.

„O über den Zufall!“ rief lächelnd der Senator. „Demnach hat Herr Rudolphi seinen eigenen Schwager verleumdet!“

„Aus Eifersucht!“ rief Wilhelmine. „Er mißtrauet Elisen –“

„Wie Herr von Jasper seiner Frau!“ fügte die Landdrostin hinzu.

Eine Stunde später hatte Wilhelmine ihrer Freundin und Schwester das Geheimniß mitgetheilt. Noch befanden sich Beide unter dem ersten Eindrucke dieser frohen Entdeckung, als Bernhard eintrat. Er trug einen Brief in der Hand, den ihm der Senator geschrieben hatte. Als er die beiden Frauen sah, die sich weinend umschlungen hielten, blieb er an der Thüre stehen. Wilhelmine näherte sich ihm, ergriff seine Hand, und sagte:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_413.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)