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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 32. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Eine unenthüllte Begebenheit.
Erzählung von Heinrich Smidt.
(Aus einer gefundenen Mappe.)
I.

In großer Erregtheit trat Alexis bei mir ein. Ich hatte ihn erst in einigen Wochen erwartet, und sprach ihm meine Verwunderung aus.

„Wie würden Sie sich erst wundern, wenn Sie wüßten!“ entgegnete Alexis mit einiger Hast. „Uebrigens bin ich nur gekommen, um einige nöthige Vorkehrungen zu treffen, dann reise ich sofort wieder ab.“

Erstaunt sah ich ihn an. Das war der heitere, unbefangene Jüngling nicht mehr, der mich vor einigen Wochen verließ, um eine Reise durch einen Theil des deutschen Vaterlandes zu machen und Stoffe für seine künstlerische Thätigkeit zu finden. Er versprach mir, eine ganze Mappe voll der schönsten Skizzen mitzubringen. Um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, erinnerte ich ihn daran.

Mit einem trüben Lächeln zog er seine Schreibtafel hervor, und reichte mir aus derselben ein Pergamentblatt.

„Vorläufig müssen Sie sich mit dieser einen begnügen.“

Ich warf einen Blick auf die Zeichnung. Sie machte einen lebhaften Eindruck auf mich. Neben einem Lehnstuhl stand ein alter Mann mit gramerfülltem Antlitz. Aus den Zügen desselben sprach eine Freundlichkeit und Milde, die unwiderstehlich anzog. Ein junger Mann trat durch die Thür. Der Alte hatte sich erhoben, um ihn zu begrüßen. Der schmerzliche Zug in dem Gesicht sagte deutlich, daß der Eingetretene nicht derjenige sei, den man erwartete. Die Kleidung des alten Herrn, so wie die ganze Umgebung deuteten einen Geistlichen an.

„Und die Erklärung zu diesem Bilde?“ fragte ich neugierig.

„Die will ich Ihnen geben, so gut ich’s vermag,“ entgegnete Alexis. „Ich stehe selbst mitten in einem Labyrinth und kann den Ausgang nicht finden.“

Mit steigender Aufmerksamkeit hörte ich auf die Mittheilung des Freundes, der so begann:

„Ich hatte die Gebirgsstadt, von welcher aus ich zuletzt an Sie schrieb, mit fröhlichem Wandermuthe verlassen. Als der Abend hereinbrach, fand sich, daß ich den rechten Weg verloren. Ein schmaler Pfad führte mich fast senkrecht zu Thale. Auf gut Glück weiter schreitend, gewahrte ich durch den vorüber streichenden feuchten Nebel einzelne Häuser, zwischen den Felsen eingeklemmt, oder hart an ihrem Abhange errichtet, neugierig in das Thal schauend. Ueberall tiefe Stille; kein Mensch mehr draußen. Bald erblickte ich auch die Kirche des Dorfes mit ihrem kurzen, hölzernen Thurm und unweit davon ein Haus, wenig größer, als die umherliegenden. Ein Fenster desselben war matt erhellt. Ohne Zweifel die Pfarrwohnung. Ich ging näher, um mir ein Nachtquartier zu erbitten. Durch das Fenster blickend, gewahrte ich einen Mann, das schneeweiße Haupt tief auf die Brust herabgesenkt. Er wandte das Gesicht dem vollen Lichte zu und ich konnte jeden Zug deutlich erkennen. Ein tiefer Gram sprach aus denselben, aber der Ausdruck des Kummers und des Schmerzes war durch einen Hauch von Milde und Anmuth verklärt. Mich fesselte dies Bild, und es bedurfte erst einer ernsten Mahnung des jetzt schärfer herabströmenden Regens, um mich zu erinnern, daß ich noch keine Herberge hatte.

Leise klopfte ich an das Fenster. Der Pfarrer fuhr auf. Er blickte zerstreut um sich. Wie träumend ließ er die Hand über die Stirn gleiten. Auf mein wiederholtes Klopfen öffnete er das Fenster und fragte: „Wer ist draußen?“

„Alexis!“ antwortete ich, meinen Namen nennend.

„Alexis!“ schrie der geistliche Herr und begann zu zittern; ich wußte nicht, ob vor Schreck oder Freude. „Alexis!“ wiederholte er. „O, herein, herein!“ Und mit jugendlicher Schnelle eilte er hinaus, um die Thür zu öffnen. Er ergriff meine Hand und zog mich hinter sich her bis in die Mitte des Stübchens; dann sah er mich scharf an und meine Hand fahren lassend, sagte er mit dem Tone getäuschter Hoffnung: „Sie haben mich betrogen, Sie sind nicht Alexis.“

Eine tiefe Trauer bemächtigte sich seiner. Bewegt von seinem Schmerz und von der Seltsamkeit der Aufnahme entgegnete ich: „Ich bin wirklich Alexis, wenn auch nicht derjenige, den Sie zu erwarten scheinen.“

„Verzeihen Sie,“ sagte er nach einer Pause. „Wie konnte ich auch glauben – der arme Mensch – er hätte meine Frage nicht beantworten können. Er ist stumm.“

Diese mit wahrhaftem Kummer gesprochenen Worte rührten mich und ich blickte mit aufrichtiger Theilnahme auf den alten Herrn, der sich nun wieder gefaßt hatte und mit der größten Liebenswürdigkeit sagte:

„Ich begreife Alles. Sie sind ein Fußreisender, haben sich in dieser unwegsamen Gegend verirrt und suchen eine Herberge zur Nacht. Sie sind mir herzlich willkommen; ich freue mich, Ihnen diesen kleinen Dienst leisten zu können.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_425.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)