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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Rosa sank händeringend in die Kniee. Theodor sah es und sagte achselzuckend: „Dieses Schauspiel macht so wenig Eindruck auf mich, als jedes andere. Die Qual, welche Sie[WS 1] jetzt dulden, habe ich durch Sie zehnfach erlitten. Wir sind von dieser Seite quitt. Ich liebte Sie und wollte Sie besitzen; ich will es jetzt mehr als je. Betrachten Sie das Band, welches Sie an den Obersten knüpft, als gelöst; werden Sie die Meine und ich schwöre Ihnen, die Grafen von Steinau sollen ungefährdet entkommen.“

Rosa wandte sich mit den Zeichen der tiefsten Verachtung von ihm ab.

„Reizen Sie mich nicht!“ entgegnete Theodor scharf. „Es ist nicht wohlgethan. Sie hörten meinen Vorschlag; denken Sie darüber nach. In vier und zwanzig Stunden fordere ich eine Antwort. Das Leben dreier Grafen von Steinau hängt von Ihrem Ausspruche ab.“

Die junge Gräfin schrie laut auf: „Mein Kind! Mein Kind! Mein Alexis.“

Sie wollte das Gemach verlassen. Theodor vertrat ihr den Weg.

„Meinen Sie, daß ich Vater und Sohn gefangen nehmen und den Enkel in der Wiege vergessen würde? Drei Grafen von Steinau habe ich gesagt.“

„Erbarmen!“ rief Rosa und sank bewußtlos vor ihm nieder.

„Das Erbarmen muß von Ihnen ausgehen, schöne Rosa. Das Erbarmen mit Ihren Angehörigen und das Erbarmen mit meiner Liebe!“ sagte er mit kaltem Spotte. „Ihr Schicksal liegt in Ihrer Hand. Warum klagen Sie?“

Er entfernte sich, ohne Rosa weiter zu beachten, die ohnmächtig am Boden lag.


IV.

Eine lange Zeit verstrich. Die stürmischen Wogen beruhigten sich und kehrten allmälig in die alten Gränzen zurück; aber diese Gränzen hatten sich geändert. Eine neue Ordnung der Dinge war eingeführt. Die alten Herrscher kehrten heim, aber ihre alten Rechte waren verloren. Dasselbe Verhältniß vom kleinsten Grundbesitzer bis hinauf zum Thron. Es war ein Bau, der bei dem ersten Anblick imponirte; aber das kundige Auge entdeckte bald den morschen Grund und berechnete den Tag, an welchem ein neuer Zeitensturm das künstliche Gebäude in einen Trümmerhaufen verwandeln werde.

In dem Umsturz des Ganzen verlor sich das Einzelne; oft unbemerkt und ohne Spur. Manches edle Haupt war dem Tode oder dem Kerker verfallen. Die wenigen Freunde, welche in der Verwirrung entkamen, sahen mit Entsetzen das Haupt ihrer edelsten Führer von dem Schwerte des Damokles bedroht. Und wie wunderbar. Gerade diese traf ein mildes Urtheil. Man zog ihre Güter ein und verwies sie des Landes. Ja, es hieß sogar nach einiger Zeit, Graf Eberhard habe durch den Einfluß eines auswärtigen Hofes die Erlaubniß zu erwirken gewußt, sich nach dem Stammschlosse seines Hauses, welches als ein Zeichen der Zwingherrschaft von dem aufgeregten Volke großentheils zerstört worden, zu begeben. Dort lebe er in tiefer Einsamkeit und werde von Niemandem behelligt. Gewisses wußte Keiner.

Von dem Obersten ging gar keine Nachricht ein. Er sollte in die Armee eines fremden Staates getreten sein; aber bei näherer Nachfrage erwies sich das Gerücht als falsch. Nur Eines wußte man gewiß. Die Grafen von Steinau hatten, durch den Beistand eines treuen Dieners, einen großen Theil des reichen Familienschatzes gerettet. Einmal hieß es, der Oberst habe sich in dieser oder jener Maske über die Gränze des Landes bis in die Hauptstadt gewagt. Aber auch hierüber konnte Niemand gewisse Auskunft geben. Endlich verlor sich das allgemeine Interesse und nur wenig Befreundete dachten von Zeit zu Zeit an die theuern Verschollenen.

Unter diesen Wenigen war der Maler Alexis, der in großer Erregung von seinem Freunde schied. Durch die Erlebnisse in der Gebirgspfarre waren längst verschollene Bilder vor ihm aufgetaucht. Er erinnere sich vieler, nur halb enträthselter Begebenheiten, die, indem er darüber nachsann, stets eine andere Form annahmen und ihn durch ihren steten Wechsel mehr verwirrten, als aufklärten.

Alexis Walter, wie er sich nannte, hatte in der großen norddeutschen Handelsstadt seit einer Reihe von Jahren gelebt, und sich daselbst eine achtungswerthe Stellung geschaffen. Seine Kunst gewährte ihm die Mittel zur Unabhängigkeit. Er wußte, daß er der jüngere Sohn der erlauchten gräflich steinau’schen Familie sei, aber er war so lange Alexis Walter genannt, daß er nur selten seiner eigentlichen Herkunft sich erinnerte. Ueberhaupt hatte er wenig von den Vortheilen genossen, welche die Stellung des Hauses den Söhnen desselben gewährte. Als die verhängnisvolle politische Katastrophe hereinbrach und Graf Eberhard nach der Hauptstadt eilte, blieb Alexis mit seinem wackern Meister auf dem alten Stammschlosse zurück. Nur selten gelangte eine Kunde von den Ereignissen des Tages in diese Waldeinsamkeit, und noch seltner hielt es der Meister für gut, sie ihm mitzutheilen. Er wollte ihm seine Unbefangenheit erhalten, und es gelang ihm. Die edlen Geistesgaben des Knaben entfalteten sich täglich freier, und sorglich war der Meister bemüht, sie der Vollendung entgegen zu führen.

Da traf ein Brief den Grafen Eberhard ein. Er war schon auf dem Wege in sein Exil und in keiner Weise war es ihm möglich geworden, nach seinem Stammschlosse zu gelangen und seinen Sohn abzuholen. Nur nach vieler Mühe gelang es ihm, einen Boten zu finden, der den Brief überbrachte. Der Graf wies darin den Meister an, sich mit seinem Zögling an einen bestimmten Ort zu begeben, wo sie zusammentreffen wollten, sobald die Umstände dies irgend gestatteten. Der Meister leistete Folge; aber dies Zusammentreffen fand nicht statt. Es verging ein Jahr, ohne daß der Graf ein Lebenszeichen von sich gab. Da erhielt der Meister den Auftrag, in einer der Hauptkirchen der großen Handelsstadt die Decke zu malen, und alsbald reiste er mit seinem Zögling dahin ab. Ein paar Jahre vergingen im frischen, fröhlichen Schaffen, und das große Werk war noch lange nicht vollendet, als der Meister gefährlich erkrankte und starb. In den letzten Stunden hieß er seinen Schüler sich nahe zu ihm setzen. Er wollte ihm die Aufschlüsse geben, welche er ihm bis jetzt in bester Meinung vorenthielt. Aber die Kräfte versagten ihm und Alexis erfuhr wenige, haltlose Bruchstücke.

Walter nannte sich Alexis nach seinem Meister und Pflegevater. Vor den Leuten galt er für einen Sohn desselben. Alexis selbst hatte sich in diese Idee so hinein gelebt, daß ihn ein Schauer überlief, wenn er daran dachte, daß es doch eigentlich anders sei. Ihm war es lieb, daß er von seiner Herkunft so wenig wußte und nahm sich vor, an dies Wenige so selten als möglich zu denken. Nach dem Heimgange des Meisters hielt er es für eine Ehrenpflicht, das nachgelassene Werk desselben zu vollenden. Und als dies unter der allgemeinsten Anerkennung geschehen war, hatte er sich an diesem Orte so sehr eingelebt, daß er ihn nur verließ, wenn die schöne Sommerzeit alle Menschen, am meisten aber die Dichter und Künstler hinaustrieb in den grünen Wald und auf die majestätischen Berge.

Da begegnete ihm das Abenteuer in der Gebirgspfarre und hin war seine Unbefangenheit. Das Blut der Grafen von Steinau regte sich in ihm. Seine nächsten Angehörigen, von denen er von der frühesten Jugend auf getrennt war, die er bis auf die Erinnerung vergessen hatte, traten klar und deutlich aus dem Nebel der Vergangenheit in die helle Gegenwart. Er gedachte des Vaters mit dem majestätischen Blick und der königlichen Stirn; er sah sich seinem Bruder gegenüber, wie er ihn mit scheuer Bewunderung anstaunte, wenn er in der glänzenden Obersten-Uniform erschien, und sich mit einer wundersamen Mischung von Scheu und Vertraulichkeit an ihn schmiegte, so oft der Oberst ihn mit seiner hellklingenden Stimme zu sich rief. Und Rosa! die liebreizende Jungfrau, die ihn wie einen jüngern Bruder liebte, ihm die zärtlichsten Namen gab und stets etwas hatte, womit sie sein junges Herz erfreute.

„Wo sind sie hingerathen?“ sprach er zu sich selbst. „Was ist aus ihnen geworden? Leben sie, in der Welt umher verstreut, ein trauriges, verkümmertes Dasein? Oder hat Gott in seiner Barmherzigkeit sie heimberufen? Und wo sind ihre Gräber? Ich will, ich muß das wissen.“

Dieser Entschluß ward alsbald zur That. Alexis pilgerte nach der Residenz, wo die Grafen von Steinau eine so glänzende Rolle gespielt hatten. Die Auskunft, welche er hier erhielt, war unbedeutend. Man wußte nichts Bestimmtes. Der ehemalige Palast des Grafen war Staatseigenthum. In demselben befand

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sie
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_443.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)