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vollen Raum. Man wollte nicht selbst beginnen, aber man war vollständig bereit, sich der Bewegung anzuschließen, wenn sie durch einen Dritten hervorgerufen würde. Noch war ein solcher Augenblick nicht gekommen, aber er bereitete sich in aller Stille vor, und Niemand wußte bestimmter, als Theodor Steinau selbst, daß der Tag nahe sei, wo er von dem Schauplatze seiner Macht herabsteigen müsse. Er bereitete Alles zu diesem Tage vor.

Alle, die dem Vaterlande nur dienen, um eignen Zwecken zu fröhnen, bereiten sich zeitig ein Asyl in der Fremde, dem sie zueilen, wenn das falsche Spiel vorüber ist, denn Untreue schlägt ihren eigenen Herrn. Auch Theodor Steinau hatte sich auf einen solchen Fall hinlänglich vorbereitet. Nur Eines bekümmerte ihn: daß er die Gegenstände seiner Rache zurücklassen mußte, ohne sie ganz hingeopfert zu haben. Der Oberst saß in seinem Gefängniß, ein schuldlos Verurtheilter, der vergebens auf seine Erlösung harrte. Rosa, von dem eigentlichen Schicksal ihres Gatten nichts ahnend, lebte wieder in dem einsamen Hause von störrischen Dienern umgeben, die all’ ihr Beginnen mit Argusaugen überwachten. Theodor kam ihr nicht mehr in den Weg. Sie schämte sich ihrer frühern Schwäche und ließ es ihm nach der abermaligen Trennung von ihrem Gatten doppelt fühlen. Seine Liebe zu ihr erlosch und machte einem finstern Hasse Platz. Er glaubte diesen nicht härter zeigen zu können, als sie über das Schicksal der Ihrigen stets in Ungewißheit zu lassen. Durch ihre Umgebung ließ er ihr dann und wann einzelne Worte zuflüstern, welche sie in einer steten Aufregung hielten, und wahrlich, dieser teuflische Plan gelang vollkommen. Rosa glich einem Schatten, der unhörbar durch die düstern Zimmer schwebte; kein Seufzer erleichterte die beklemmte Brust und nur ein Blick nach oben verrieth die Sehnsucht ihres Herzens mit den Lieben vereint zu werden, welche sie dort ihrer harrend wähnte.

Aber der Knabe, der kleine freundliche Alexis, der auf der Flucht seiner Eltern verloren ging, und dessen unbekanntes Schicksal ein stets nagender Wurm an dem Herzen seiner Mutter war? Theodor Steinau lag Alles daran, sich desselben zu bemächtigen, um einen Gegenstand seines Hasses mehr zu beherrschen. Eine gütige Vorsicht hielt schirmend die Hand über diesen Knaben, damit er in der einsamen Pfarre aufblühe. Mehrere Jahre waren mit vergeblichen Nachforschungen verstrichen, da gelang es einem der Spione, des kleinen Alexis Aufenthalt zu entdecken. Unerwartet fiel er über denselben her, verstreute seine Sachen an einem schroffen Felsabhange, damit man glaube, er sei dort verunglückt und brachte ihn seinem Gebieter. Theodor Steinau, erfreut, den letzten Sprößling des verhaßten Geschlechts seiner niederen Rache zu opfern, bestimmte ihm dasselbe Schicksal, was einst Richard III. über den jungen Clarence verhängte. Er warf ihn unter die Hefe des Volkes und ließ den Leuten, denen er übergeben wurde, andeuten, an einem Jungen, der nicht einmal sprechen könne, sei nichts zu verderben. Man möge ihn tüchtig arbeiten lassen und gut überwachen, damit er keine dummen Streiche begehe. So lebte der arme Alexis von gemeiner Arbeit niedergedrückt, auf das kümmerlichste genährt und gekleidet, ein freudenloses Dasein; seine Tage schlichen in schauriger Einförmigkeit vorüber, und nur wenn in einsamer Nacht der Schlaf ihn aufsuchte, oder wenn er verschickt wurde, um eine ihm aufgebürtete Last an einen bestimmten Ort zu bringen, oder eine solche heimzuholen, fühlte er sich frei und glücklich von seinen Peinigern fern zu sein.

So hatte er eines Morgens seine Bürde in einer fernen Vorstadt abgeworfen und ging leicht und heiter heim. Auf einem der vielen sonnigen Plätze ließ er sich ermüdet nieder und athmete frei auf. Es war ein lebhaftes Drängen um ihn her. Menschen schaarten sich zusammen, zogen weiter und machten Anderen Platz. Diese Bewegungen waren die Vorboten der größeren Ereignisse des Tages, an welchem der Tyrann gestürzt und Recht und Gerechtigkeit wieder zu Ehren kommen sollten. Alexis achtete nicht darauf. Er war innig froh, daß er zu dem blauen Himmel aufschauen und das Grün der Bäume rauschen hören konnte; er achtete nicht auf die vorüberrauschende Menge, und sah nicht den einzelnen Mann, der unfern von ihm stand und ihn mit großer Theilnahme betrachtete. Endlich trat dieser näher, legte die Hand auf die Schulter des Knaben und sah ihm fest in das Gesicht.

„Welche wunderbare Aehnlichkeit!“ sprach er vor sich hin. „Sollte es möglich sein? Wer bist Du, Knabe?“

Alexis sah zu ihm auf und schüttelte mit dem Kopf.

„Er ist stumm. Auch das trifft zu. Armes Kind! – Wie kommst Du hierher? Wenn Du es nicht sagen kannst, kannst Du es mir vielleicht aufschreiben?“

Ueber das Gesicht des Knaben flog ein rosiger Schimmer.

Dann ließ er das Haupt sinken und machte eine abwehrende Bewegung. Er mochte manche schwere Züchtigung erfahren haben, wenn er zeigen wollte, was er gelernt. Man hatte ihn gezwungen, es zu vergessen.

„Hast Du Niemand, der für Dich sorgt? – Nein? – Willst Du mit mir kommen, so will ich es thun. Ich werde Dich gut halten und Dich lieb haben.“

Der Knabe sah den Fremden froh erwartend an. Dieser beugte sich zu ihm nieder.

„Ist das nicht der Maler Alexis Walter, von dem man seit einiger Zeit so viel Wesens macht?“ fragte ein Vorübergehender.

„Er ist es!“ lautete die Antwort. „Fällt Ihnen etwas auf?“

„Gewiß. Ich bemerke mit Erstaunen, welches Interesse er an den schmutzigen Jungen nimmt, der dort auf der Bank hockt.“

„Vielleicht ein Modell.“

„Warum nicht gar! Es ist aber wirklich merkwürdig! Lassen Sie uns doch näher gehen. Da stehen schon Mehrere und sehen der Scene zu.“

Mehrere Neugierige, die sich sammelten, stießen sich an: „Wie sonderbar! Hat man so etwas gesehn!“ sagte Einer.

„Sie sehen sich außerordentlich ähnlich!“ bemerkte der Zweite.

„Wie Vater und Sohn!“ sprach lächelnd ein Dritter.

„Oder eher wie ein älterer und ein jüngerer Bruder!“ entschied ein Vierter.

Alexis Walter hörte das Geflüster. Er zog daher den Knaben mit sich fort. Der Strom der Menge fluthete weiter. Zwei Menschen fanden sich, die sich im Leben nicht sahen und doch einander so nahe angehörten. Mit rührender Sorgfalt sorgte Alexis für den verwahrlosten Knaben. Aber das war ihm nicht genug; er wollte auch wissen, wie er in dies Elend gerieth. Bald wußte er Alles und furchtlos trat er bei dem Kerl ein, der bis daher der Büttel seines Neffen war. Dieser war anfangs grob und drohte mit Mord und Todtschlag, wenn man den Knaben nicht sofort wiederbringe; aber Alexis Walter setzte dem rohen Poltern unerschütterliche Kaltblütigkeit entgegen und der Mann, dem eine Ahnung kam, daß er zu einem Bubenstücke die Hand bot, wofür er dem Gesetz verfallen könne, wenn ein Umsturz der Dinge bevorstände, gab endlich nach und bekannte, wer ihm den Knaben übergeben und welche Anweisungen er empfangen habe.

„Theodor Steinau!“ Er wußte genug und kehrte mit dem Entschlusse heim, am Tage der allgemeinen Abrechnung auch für diese That Genugthuung zu fordern.

Und dieser Tag kam mit fliegender Eile. Oheim und Neffe erwarteten ihn mit Sehnsucht. Der Knabe hatte sich nicht sobald an ein menschliches Dasein gewöhnt, als seine gewaltsam unterdrückten Fähigkeiten sich unter der Vorsorge kenntnißreicher Meister rasch entfalteten.

Theodor Steinau spielte ein verzweifeltes Spiel; er verlor es Satz um Satz. Seine Mittel waren erschöpft; bald kämpfte er nur noch für seine Selbsterhaltung. Wenige seiner Treuen hielten bei ihm aus und von diesen Wenigen neigte sich auch schon Mancher der andern Partei zu, oder stand gar im Solde einer, der Gegner Steinau’s.

Einen derselben hatte Alexis Walter für sich zu gewinnen gewußt. Er erfuhr, daß Theodor Steinau, seine unhaltbare Stellung begreifend, am folgenden Tage die Hauptstadt verlassen werde, aber nicht, wie er gegen seine Freunde geäußert, ohne seinen Feinden den empfindlichsten Schlag beizubringen. Alexis Walter forschte genau nach. Mit Schmerz gedachte er des Bruders, der, um seiner Treue willen, mit allem festlichen Gepränge eines hohen Gerichtes wegen Hochverraths verurtheilt, noch immer in einem unbekannten Kerker schmachtete. Mit glühendem Eifer entfaltete er seine ganze Energie und schleuderte den Funken des Verdachtes in jene bewegliche Masse, von der man weiß, daß sie immer zündet.

Das Volk, nach dem Ausspruche des Dichters, „raschlodernd in seiner Liebe, wie in seinem Zorn“, horchte auf die einzelnen Stimmen, die zu ihm drangen. Immer mehr gewannen sie Platz

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