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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

stammelt er: „Weib! was hast Du gethan? Auf welchem Rain werden jetzt die Unglücklichen unter entsetzlichen Qualen ihren Geist aushauchen … Du hast einen Mord auf Deinem Gewissen – denn in der Flasche war Scheidewasser.“ Doch wer beschreibt sein Erstaunen und das seiner zitternden Ehehälfte, als in dem Augenblick die Todtgeglaubten, welche vor ungefähr einer Stunde eine halbe Flasche verdünnte Salpetersäure getrunken haben, gesund und munter mit dem Bemerken in die Stube traten, der Branntwein habe ihnen so geschmeckt, daß sie umgekehrt, um noch einige Gläschen, falls noch welcher vorhanden, zu trinken. Wenn A. Dumas diese Anekdote von den langbärtigen Bewohnern der Ukraine und den donischen Kosaken erzählt hätte, die bei ihrem Besuch in Deutschland Anno 1813 und 14 in einigen anatomischen Museen den Spiritus getrunken haben sollen, in welchem die Monstra u. s. w. aufbewahrt werden, so könnte man sich die Geschichte schon gefallen lassen, aber ein derartiges Kunststück von deutschen Studio’s ausführen zu lassen, dazu gehört eine Kühnheit der Erfindung und naive Dreistigkeit, wie sie nur dem Verfasser von Monte Christo eigen ist, der in seinen Romanen noch ganz andere Dinge möglich macht.

Doch wir wollten ja nicht von den Kunststücken des Herrn A. Dumas, sondern von den pariser Studenten erzählen, dieser immer heiteren und beweglichen Bevölkerung des Quartier latin, in dessen engen, schmalen Straßen und hohen fünf- bis sechsstöckigen Häusern diese wißbegierige Jugend Frankreichs hauset und sechs bis acht Semester ein Leben führt, welches zwischen den Hörsälen der Rechts- und medizinischen Schule, dem Prado, Ranelagh, der Chaumière und den Restaurationen vor den Barrieren oder den Weinschenken von Maison rouge, Bercy, Auteuil[WS 1], Belleville und Batignolles getheilt ist. Wenn übrigens hier von den pariser Studenten gesprochen wird, so kann man natürlich nur die des Rechts und der Medizin darunter verstehen, denn die katholischen Geistlichen Frankreichs werden meistens in den Seminarien gebildet und die protestantischen Studenten der Gottesgelehrsamkeit studiren in Straßburg. Es gibt zwar auf der Universität von Paris, die im Jahre 1200 ihre ersten Privilegien erhielt, fünf Fakultäten und darunter auch eine katholisch-theologische, deren berühmter Stifter Peter[WS 2] von Sorbonne[1] war, (daher der Name: die Sorbonne) allein unter den 7000 Studenten, welche nach den neuen statistischen Angaben die pariser Universität besuchen, bilden die der Rechts- und medizinischen Schule die überwiegende Mehrzahl.

Im Monat November finden die meisten Inscriptionen statt und wenn man sich in diesen Tagen in der Nähe der verschiedenen Bahnhöfe aufhält, so kann man eine Menge junger Leute bemerken, die eben aus den Waggons gestiegen sich mit etwas schüchternem, befangenem Wesen nach einem Fiaker umsehen, der sie und ihre kleinen mit Seehundsfell beschlagenen Koffer aufnehmen soll, um sie nach dem Stadttheil auf dem linken Seineufer, dem klassischen Viertel von Paris, dem Quartier latin zu fahren.

Diese verlegenen, rothwangigen Jünglinge mit dem leichten Flaum um Mund und Kinn, in dem bescheidenen, schülerhaften Anzug, die blöde und erröthend den Blick zu Boden schlagen, wenn sie ein Blitz aus schönen Frauenaugen streift, sind die neuen Jünger der Wissenschaft, die nach bestandener Maturitätsprüfung von den Gymnasien der Provinz nach Paris kommen, ganz betäubt von dem Eindruck, den die verführerische Hauptstadt beim ersten Tritt auf’s Pflaster auf sie ausübt. Aber sie sind noch nicht sechs Wochen in Paris und es ist mit ihnen eine Verwandlung vorgegangen, wie wir sie vollständiger kaum in den Metamorphosen des R. Ovidii Nasonis finden. Oder erkennt ihr, wenn ihr eines Montags oder Donnerstags durch die glänzend erleuchteten, von einer vergnügungslustigen Menge schöner junger Frauen und Männer erfüllten Räume des Prado, des Ball Mabille oder Ranelagh geht, in jenem jungen Mann mit dem dunklen Kinnbärtchen, den weiten, buntkarrirten Hosen und dem leichten kurzen Leibrock, der so herausfordernd und unter allgemeinem Beifall und trotz des um ihn herumlungernden Sergent de ville eine sehr an den Cancan streifende Contretour mit seinem vis-à-vis, einer allerliebsten brünetten Grisette im Rosakleid tanzt, erkennt ihr in ihm den jungen, blöden Ankömmling wieder, den ihr vor vielleicht sechs Wochen mit dem Reisesack in der Hand, im ehrsamen schwarzen, langen Rock, in der Nähe des Bahnhofs gesehen habt, wie er eben aus der Provinz kam? Die Grisette, mit welcher er den Contre tanzt, ist seine Frau, seine „femme“, deren Bekanntschaft er vielleicht acht Tage nach seiner Ankunft in Paris in irgend einem Theater zweiten Ranges oder auf einem Ballsaal vor den Barrieren gemacht hat. Es ist dies zwar etwas rasch gegangen – aber Paris ist wie Leipzig: „es bildet seine Leute.“ Es ist bekannt, daß die Grisette die unzertrennliche Begleiterin des pariser Studenten ist, und während der deutsche Student, kaum angelangt in der Musenstadt, eilt, sich in ein Corps oder eine burschenschaftliche Verbindung aufnehmen zu lassen und das dreifarbige Band um die Brust zu schlingen, tritt der pariser Student in Verbindung mit einer Grisette, die von nun an seine Leiden und Freuden, sogar sein Zimmer mit ihm theilt. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein über das Sittliche oder Unsittliche dieses Verhältnisses zu sprechen, aber soviel wollen wir wenigstens sagen, daß diese Verbindungen die leidenschaftliche Jugend wenigstens vor noch viel schlimmeren Verirrungen schützen. So leichtsinnig übrigens auch diese Grisetten des Quartier latin sind und so rasch sie auch den Gegenstand ihrer Neigung wechseln, so findet man doch unter ihnen hochherzige und aufopferungsfähige Mädchen, die mit ihren Geliebten nicht blos die Vergnügungen eines Carnevalsabends in der großen Oper oder die sommerlichen Spazierfahrten und Gänge nach Montmorency und dem Wald von Romainville theilen, sondern auch Mangel und Noth mit ihnen ertragen. Von vielen Beispielen nur eins, das mir in Paris erzählt wurde.

In dem sechsten Stockwerk des Hauses Nummer 32 der, unweit des College de France und der polytechnischen Schule, gelegenen Rue des Carmes, wohnte ein junger Mann, Student der Rechte im achten Semester und eine junge Blumenmacherin, Namens Clemence, die den ganzen Tag bei ihrer Arbeit sang und trällerte und glücklich war, wenn sie Sonntags mit Theodor, so hieß der Student, vor die Barriere gehen und dort unter schattigen Bäumen, auf grünem Rasen ein gedämpftes Kaninchen, Eierkuchen, gebackene Fische und Cotelettes essen, eine Flasche Macon trinken, Contre tanzen und den Abend im Gaite-Theater oder in einem Kaffeehause auf den elyseeischen Feldern beschließen konnte. Dies lustige Leben dauerte so lange als Herr Theodor Durand sen., der Vater des Studenten, welcher ein ehrbarer Krämer in der Stadt Auxerre, im Departement der Yonne war und mit Wachslichtern und Senf handelte, den monatlichen Wechsel schickte – es hörte aber plötzlich auf als Herr Theodor Durand jun. eines Abends, eben als er mit Clemence von einem Ball aus der Chaumière auf dem Boulevard Mont-Parnasse heimkehrte, vom Portier einen Brief mit dem runden, blauen Poststempel von Auxerre empfing, in welchem Herr Durand Vater schrieb: „er erwarte, daß der Herr Sohn, der nun schon sieben Semester in Paris sei, bis zum nächsten Semesterschluß das Examen bestehe, da er ihn noch bei Lebzeiten im Barreau (d. h. unter den Advokaten) sehen wolle, wozu aber, wenn es so fortgehe, wenig Aussicht vorhanden und wenn er, der Vater, auch so alt wie Methusalem würde. Inliegende Banknote von zweihundert Franken sei auch das Letzte, was der Herr Sohn von ihm vor bestandenem Examen zu erwarten habe, von diesem Geld möge er auch die Examenkosten bestreiten und nun, nachdem er, wie er erfahren, sich eine so ausgebreitete Kenntniß der Restaurationen von Paris erworben, sich eine gleich ausgebreitete Kenntniß des Code pénal und Code civil erwerben u. s. w.  u. s. w.“

Theodor begnügte sich, Clemence nur den interessantesten Inhalt des Briefes, d. h. die 200 Frankenbanknote zu zeigen und sie zu bitten, alles Nöthige für ein feines Frühstück zum nächsten Morgen bereit zu halten, da er mehrere gute Freunde zu sich bitten wolle. Nach dem Frühstück gab es Landparthien, Theater, den Circus auf den elyseeischen Feldern, in Versailles spielten die Fontainen und – ich glaube, es war gerade an dem Sonntag, wo die versailler Wasser sprangen – bald sprang auch Theodors letztes Fünffrankstück, und als er mit Clemence von Versailles nach Paris zurückgekehrt war, hatte er noch soviel, um bei einem Marchand de vin an der Barriere einen Litre blauen Wein zu bezahlen, d. h. zehn Sous. Derartige Verlegenheiten waren zwar früher auch vorgekommen, ohne daß dabei der Humor gelitten hätte, denn wozu wäre denn sonst die schöne Einrichtung – nicht des Credit mobilier, sondern des Credits bei den Wirthen,


  1. Um’s Jahr 1250

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Auteil
  2. richtig ist wohl Robert von Sorbon
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_462.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)