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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

gegen den er mit solcher Gewalt anrannte, daß sich ein Stein ablöste und hinunter fiel.

Der Blick, den er auf das Bette des Flusses werfen konnte, bevor er seinen Kopf zurückzog, war zwar nur ein blitzschneller, allein er war hinreichend, ihn für seine Heimath zittern zu machen.

Volle siebenhundert Mann waren unter ihm, die mit so regelmäßiger Ordnung am Rande des eingetrockneten Flusses marschirten, als sei ihr Weg eine Landstraße. Ihre Gewehre glitzerten auf ihren Schultern und sowohl die Ausrüstung wie der Anblick und die Haltung jedes einzelnen Mannes verrieth die geübten Lohnkämpfer.

Das Fallen des Steines schien durch die Leute, welche die Vorhut bildeten, bemerkt zu werden; allein es ward wahrscheinlich der Heftigkeit des Regens zugeschrieben, der noch fortwährend niederströmte. Der Umstand diente jedoch als Vorwand, einen sich erhobenen, lärmenden Streit mit großer Erbitterung fortzusetzen, und augenblicklich konnte Hans hören, wie das Wort „Halt“ von Kompagnie zu Kompagnie gerufen wurde und das ganze Truppenkorps stehen blieb.

„Beim Teufel,“ sagte eine rauhe Stimme an der Spitze, „ich will Niemand zu Gefallen so toll und blind vorwärts gehen. Himmel Donnerwetter! Was sollen wir hier, wenn unsere Kameraden an der andern Seite der Berge an der Arbeit sind?“

„Und dann,“ setzte ein Anderer hinzu, „wenn wir ankommen (und es hat nicht den Anschein, als wenn wir überhaupt ankommen werden), nachdem der Hauptpaß genommen ist, werden dann nicht selbst die versprengten Ueberreste der Tyroler stark genug sein, uns in Stücke zu hauen?“

„Aber das ist noch nicht Alles,“ stimmte ein Dritter ein, „obgleich das, beim Teufel, richtig genug ist! Ich selbst sah einen Stein von diesem Felsen hier fallen oder vielmehr ich fühlte ihn; doch das ist nicht hin noch her. Wir Alle kennen die Pfiffe von diesen Malefizbauern, die von Ehre und Kriegsgebrauch nichts wissen, und einen Offizier niederschießen, wie ich einen Wolf wegpaffen würde. Nun ist die Sache die: wird unser Führer weggeblasen, ehe wir den Punkt erreichen, den er den Schlüssel zum Passe nennt, wer, zum Teufel, soll uns denn das Schloß aufschließen? Wenn unser General sich nicht stark genug hielt, den Feind auf ehrliche Weise mit uns zu schlagen – wie wird es ihm ohne uns gehen? Und endlich – Himmel Donnerwetter! – wenn wir nicht in Sterzing zur Nacht essen, wo werden wir denn überhaupt etwas bekommen?“

Ein heiseres Beifallsgemurmel folgte dieser Rede, während Hans seinen Stutzen anlegte und auf eine Gelegenheit paßte, des Führers ansichtig zu werden, von dessen Leben der Erfolg der Expedition und vielleicht der des Krieges selbst abhing.

Es gelang ihm, zu einer Stelle zu kriechen, von wo aus er durch eine einzige Bewegung seines Kopfes die ganze vor ihm liegende Scene überblicken konnte, und dann wartete er, bis irgend ein Sprecher die unruhige Zuhörerschaft anredete und sie vielleicht nöthigte, ihre Augen nach einer andern Seite zu richten.

Er brauchte nicht lange zu warten. Eine Stimme, welche von einer Erhöhung in der Mitte des Flusses auszugehen schien, fing an, sich in verdrießlichem Tone auszulassen, der mit Zorn und Verachtung gemischt war.

„Kameraden,“ sagte der Redner, „ich habe Euch nicht in Bezug auf die Zeit getäuscht, wovon Ihr Euch überzeugen könnt, wenn Ihr nach der Uhr seht, obgleich die Hindernisse auf dem Wege daran Schuld sein mögen, daß sie Euch länger geworden, als uns lieb ist. Was nun die Entfernung anbetrifft, so versichere ich Euch heilig, daß wir nicht mehr als zweihundert Schritt von einer Stelle sind, von der aus ich Euch mit dem Finger den Schlüssel des Engpasses zeigen kann. Es ist wahr, daß bis dahin Eure Sicherheit von der meinigen abhängt, allein wollt Ihr demselben Glück, welches uns so viele Stunden begleitet hat, nicht noch fünf Minuten folgen? Zu gleicher Zeit stelle ich es Jedem, der keine Lust hat, vorwärts zu gehen, mit Vergnügen frei, umzukehren, und verzichte auf mein Recht, solche Aufführung Verrath oder Desertion zu nennen; denn bald werden wir Thaten und nicht Worte nöthig haben. Und nun, Ihr Alle, welche Ihr die Lust zu dem Abenteuer verloren habt, rechts um, kehrt Euch! und die Uebrigen vorwärts! Vorwärts für Baiern! Marsch!“

Hans erhob seinen Stutzen und brachte ihn in eine Richtung mit dem Felsen und dem Fleck, von woher die Stimme kam; allein der Redner hatte seinen Platz verlassen und die ganze Kolonne war wieder in Bewegung.

Der Tyroler verließ nun seinen Posten ebenfalls und rannte, hinter den Felsen fortschießend, ungefähr zwanzig Schritt weiter. Hier bohrte er eilig durch dickes Moos, welches den Gipfel bekränzte, eine Oeffnung, die ihm für seinen Büchsenlauf eine bessere Lage darbot und ein besseres Zielen erlaubte, und erlangte den vollen Anblick seines Mannes. Das Gewehr des Baiern deckte jedoch seinen Hals, und seine helmartige Kopfbedeckung war mit Metall beschlagen, und wenn er es versuchte, ihn in den Körper zu treffen, so war zu befürchten, daß die Kraft der Kugel entweder durch den Arm gebrochen werden, oder nur in der Seite eine leichte Wunde machen möchte. Hans rannte daher wieder weiter.

Das nächste Mal war der Führer umringt und durch einen Soldatenhaufen vollständig gedeckt. Der höhere Theil des Weges, wo derselbe den Rand des Wassers verließ und den Felshang hinauf lief, war nahe, es war der Fleck, von welchem der Führer ganz richtig gesagt hatte, daß er von hier aus den Schlüssel des Passes mit dem Finger zeigen könne.

Hans bereuete bitterlich, daß er nicht gefeuert hatte, als sich die Gelegenheit ihm darbot; allein Alles, was er nun thun konnte, war, den Platz zu erreichen, wo die Kolonne das Aufsteigen beginnen wollte und dort, wenn sich keine günstige Gelegenheit darbot, seine Aufgabe ungesehen auszuführen, die Aufmerksamkeit des Opfers dadurch auf sich zu ziehen, daß er sich kühn bloßstellte.

Er erreichte eine Stelle, die eigens für den Meuchelmord geschaffen schien. Der Felsen überhing hier den Fluß, der unten im Dunkeln aus tiefen Ufern dahin rollte und der Wanderer, der von dem tiefen Pfad herauf stieg, war genöthigt, gerade auf der Kante zu gehen, wenn er die Höhe der Klippen erreichen wollte.

In dieser Lage mußte er von Jemand, der hinter den Felsen stand, die in gezackten Lücken und Spalten gebrochen waren, vollkommen gesehen werden. Hier kroch der Gemsenjager, hier drückte er – seinen Stutzen am Backen – seinen Finger am Drücker und Mord in seinen Gedanken, der so schön aussah wie Tugend, und es vielleicht auch war.

Im nächsten Augenblick erschien der Führer, der seinen Kameraden vorangeeilt war, vollkommen sichtbar auf dem Rande der Klippe. Er war ein junger Mann – in Wahrheit ein bloßes Bürschchen – von geschmeidiger und beweglicher Gestalt. Sein Gesicht war jedoch nach einer andern Richtung gewandt, als er die Gelegenheit des Ortes zu prüfen schien, und Hans wartete geduldig, bis er sich herumwenden würde, da er entschlossen war, sein Opfer gerade in die Stirn zu treffen, aus Furcht, daß seine Kugel sonst irgend einem versteckten Schutz in der Kleidung begegnen möchte.

Der Jüngling wandte sich um und sein Auge ruhte für einen Moment gerade auf dem Fleck, wo der Schütze lag. Hans wurde wie blind. Das Blut strömte ihm aus jeder Ader des Körpers mit einer Gewalt zum Herzen, die augenblickliches Ersticken drohte. Seine Sinne verwirrten sich; es war ihm, als habe er einen schrecklichen Traum, aber inmitten von all dem erschien der Gedanke an Lenore mit niederschmetternder Bestimmtheit. Das war Lenore’s Auge, das war ihr Mund – ihr ganzes Antlitz! Ihr Bruder – der wandernde Schweizer – der arme, freudlose Bursche, war der Führer der Baiern.

Da war keine Zeit zum Ueberlegen – oder vielmehr da war zu viel. Schrecklich waren diese Augenblicke, die in ihrem kleinen Kreise genug Seelenangst einschlossen, um eine ganze Lebenszeit zu verbittern.

Der Jüngling sprang in stolzer Ungeduld auf die Klippe, welche seine Aussicht versperrte. Aus den Kehlen der Baiern ertönte schon ein halb unterdrücktes, wölfisches Geschrei bei der Aussicht, aus der Schlucht heraufzusteigen, die sie so lange verschlungen hatte.

Hans brach in kalten Schweiß aus. In diesem Augenblicke rollte der Ton einer fernen Kanonade schwerfällig über das Gebirge. Der Hauptpaß war ohne Zweifel forcirt und die Tyroler waren auf ihr Dorf zurückgetrieben. Der Schweiß trocknete auf Hansens Stirn, seine Muskeln zogen sich zusammen, sein Gesicht wurde starr und so weiß wie Marmor. Der Angstruf Lenorens, als ihr Bild vor seinen Augen vorüber schwebte, wurde erstickt in dem Schrei seines Vaterlandes. Er feuerte; der Bruder seiner

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