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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

spielt den Jago im Schauspiel und liefert ohne Gewissensbisse das gräßlichste Gewebe von Verbrechen. Dies Volk scheint in der That das einzige ohne alle religiösen Gefühle und nur darauf bedacht zu sein, den Augenblick zu befriedigen. Der Tod ist ihnen nichts als ein ewiger Schlummer. Und doch sind sie für ihre Begräbnisse besorgt, und lassen ihre Kinder taufen. Oft wiederholen sie diese Ceremonie wohl zwölf Mal, um recht oft Pathengeschenke zu erhalten. In jeder Lage zeigen sie sich als wirkliche Heiden, und wenn sie Kummer zum Beten treibt, so weicht dies Bedürfniß mit dem Kummer.

„Ein Zigeuner,“ sagt eine von den Erzählungen, „fuhr einst mit seinem Karren, der mit seiner ganzen Familie und Gütern beladen war, auf einem schmalen Wege bis an die Axe im Schmutz. Langsam und schwerfällig drehten sich die Räder, bis sie endlich ganz in’s Stocken geriethen. Das Pferd zog, der Mann peitschte es und schwor und fluchte, wie nur ein Zigeuner schwören und fluchen kann. Alles war vergebens, der Wagen blieb unbeweglich. Beim letzten furchtbaren Peitschenhiebe sank das arme Thier in die Knie und fiel auf die Nase. Der Fall des Thieres richtete den Blick des Zigeuners plötzlich himmelwärts, und in seiner Noth rief er beständig die heilige Jungfrau an.

Obgleich er in seinem Leben nicht gebetet hatte, nahm er jetzt die Miene eines Betenden an und brauchte alle Worte, die er von Christen gehört hatte. „Hilf, heilige Jungfrau, hilf, und ich will Dir eine Kerze schenken, so dick wie mein Leib!“ Das Pferd hatte sich inzwischen einen Augenblick erholt, und beim nächsten Peitschenhiebe bewegte sich der Karren ein paar Schritte weiter. Der Heide glaubte sich schon aus aller Noth, als er plötzlich wieder fest saß. Er fing sogleich wieder an, zu beten. Da indeß der halbe Weg zurückgelegt und das Wachs theuer war, so gelobte er diesmal eine nur armdicke Kerze. Er hatte nicht Zeit, um Amen zu sagen, hieb aber noch stärker mit der Peitsche. Der Karren bewegte sich langsam, bis er beinahe aus dem dicksten Schmutze heraus war. Um ganz sicher zu gehen, wiederholte der Zigeuner sein Gelübde, aber der gute Weg war jetzt so nah, daß er sich mit einer nur noch fingerdicken Kerze begnügte. Endlich befand er sich auf dem guten Wege und kam nach einigen Minuten bei einer Kapelle der Jungfrau vorbei. Während er vorüberfuhr, entblößte er sein Haupt und sprach: „Die gnädige Jungfrau hat mehr zu thun, als auf einen armen Teufel, wie mich, zu achten.“

Bei aller Schurkerei und allem materiellen und moralischen Schmutze, in welchem sie mit Liebe leben, sind sie doch sehr schön, besonders die Frauen. Die brennende Sonne dörrt ihr Antlitz mehr, und sie sind daher weit dunkler in Ungarn, als in England. Das freie Leben, welches sie führen, gibt ihnen ein ungezwungenes Gepräge, welches jedoch die Constables, der Stock und das Gefängniß ihren Inselbrüdern längst benommen haben. Die kühnen, braunen, schönen Frauen und Mädchen versetzen uns in Staunen, wenn man denkt, wie solche Augen, Zähne und Gesichtszüge in der stinkenden Atmosphäre ihrer Zelte existiren können. Sie sind in der That schön und ihre Schönheit hat oft zu Verbindungen geführt, die sich meist in Unglück aufgelöst haben.

Stephen B., ein junger und sehr reicher Besitzer im Banat, war auf der Jagd vom Wege abgerathen und brachte die Nacht unter einem Zigeunerzelte zu. Hier sah er ein junges, schönes Mädchen mit tiefschwarzen Augen und dem verführerischen Lächeln ihres Stammes. Ihre Eltern wandten jene Zigeunerlist an, um die keimende Leidenschaft ihres Gastes noch mehr anzufachen. Er war reich, verliebt, elternlos und selbstständig und in einer Woche war die Zigeunerin seine Frau und nach Verlauf einiger Tage im vollen Besitz seines schönen Schlosses am Ufer des Temes. In zehn Tagen hatte sie ein fabelhaftes Glück gemacht. Aus der verräucherten Hütte ihres Vaters war sie, wie durch Zauber in ein schönes Besitzthum übergesiedelt, umgeben mit Luxus, einer Schaar von Dienern und einem ihren Wünschen willfährigen Gemahl. Dessenungeachtet fühlte sie sich unglücklich. Das regelmäßige, ruhige Leben, die Bequemlichkeiten, welche sie genoß, schienen sie niederzudrücken. Wenn ihr Gatte sie nach der Ursache ihrer Blässe und ihres veränderten Aussehens fragte, schaute sie in’s Freie und versuchte zu lächeln. Doch ihr Lächeln war ein bitteres. Ihre einzige Beschäftigung war, Stunden lang über die weite Oede hinzustarren, welche sie so oft barfüßig aber freudig in den Tagen ihrer Armuth durchstreift hatte. So saß sie eines Tages, als ihr scharfes Ohr das Geräusch einer vorüberziehenden Zigeunerbande vernahm. Durch die Bäume erblickte sie die vorüberziehenden Männer- und Weibergestalten, die Esel und beladenen Karren. Jetzt schlug eine fröhliche Stimme den Lieblingsgesang der Zigeuner an:

Der Wind durchsauset Pußt’ und Wald,
Der Mond lenkt hoch sein Steuer,
Darunter macht der Zigan (Zigeuner) Halt,
Und kocht sein Mahl am Feuer.

5
Frei ist der Lachs in Fluß und Meer,

Frei ist der Hirsch aus Hügeln,
Frei ist der Aar am Himmel mehr:
Noch freier wir von Zügeln.
          Hurrah!

10
Noch freier wir von Zügeln!


Jung Mädchen komm mit mir in’s Schloß:
Ich geb’ Dir güldne Ringe
Und seidne Kleider, Dienertroß
Und andre schöne Dinge.

15
Der Geier will für Draht von Gold

Sein hohes Nest nicht missen;
Das wilde Pferd war nimmer hold
Vergoldeten Gebissen.

Nein, frei zu zieh’n durch Flur und Feld,

20
Zu ruh’n beim Waldesfeuer,

Die Welt als Haus, den Himmel als Zelt –
Solch’ Leben ist uns theuer!
          Hurrah!
Solch’ Leben ist uns theuer!

Bei der letzten Note sprang die Lauscherin durch das offene Fenster, und verschwand hinter den Bäumen. Als ihr Gatte nach Hause zurückkehrte, wollte sie Niemand gesehen, noch eine Nachricht über sie haben. Zwei Tage lang suchte er sie vergebens; als er am Morgen des dritten den entfernten Feuerschein eines Zigeunerlagers erblickte, sagte ihm sein Herz, daß er dem Gegenstände seines Suchens nahe wäre. Durch die Büsche schleichend, näherte er sich unbemerkt ein paar Leuten, welche beim Feuer saßen und plauderten. Es waren der Sänger und seine Gattin, welche von den lästigen Stunden in dem glänzenden Elende ihres Schlosses erzählte. Stephan B – kehrte gebrochenen Herzens zurück nach seinem Hause, welches er bald darauf für immer verließ. Im nächsten Jahre brach die ungarische Revolution aus und er fand, was er suchte, einen frühzeitigen Tod vor Temesvár.




Sadleir, der Fälscher einer Million und – seiner selbst.

Wie unumstößlich wahr erscheinen oft zwei ganz entgegengesetzte Ansichten von ein und derselben Sache. Was der eine wissenschaftlich schwarz nennt, ist nach dem klaren Beweise eines andern Professors schneeweiß. Solche Kontraste kommen sehr oft vor im Leben, besonders vor Gericht. Anklage und Beweise des Staatsanwaltes oder Klägers erscheinen oft so unerschütterlich und überführend, daß man denkt, der Vertheidiger oder Angeklagte brauche sich gar keine Mühe zu nehmen, den Mohren weiß zu waschen. Aber gib Achtung, wie der Mohr unter der Wäsche des Vertheidigers Glied für Glied bis auf die Nägel weiß wird und die gelehrten Argumente des Staatsanwaltes wie schmutziges Wasser ablaufen!

Wissenschaft und Leben, besonders Gerichtsverhandlungen sind voll von Beispielen dafür. Aber daß die unumstößlichen Beweise für den Tod und das Leben einer und derselben Person vor unsern Augen unumstößlich bleiben könnten, das kommt nicht alle Tage vor, wiewohl auch nicht zu selten. Wir haben jetzt ein großartiges Beispiel aus dem englischen „Hochleben“ vor uns,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_499.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)