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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

aus der Gesellschaft Palmerston’s, denn der Todte und Lebende zugleich ist niemand Geringeres, als Sadleir, Mitglied des palmerston’schen Ministeriums, Fälscher einer Million Pfunde und – seiner selbst, dessen großartige Schwindeleien vor einigen Monaten alle Zeitungen durchliefen.

Am 18. Februar, Sonntag Morgens ward auf den Hampstead-Höhen im Norden von London, einer künstlich erhaltenen, gefunden, wilden Gegend von Hügeln, Thälern, Teichen und Bäumen, ein männlicher Leichnam gefunden. Ein silbernes Milchtöpfchen und eine große Flasche, mit einem Zettel beklebt, auf dem „Essenz von bittern Mandeln“ (Blausäure) gedruckt stand, lagen neben dem Leichname. Er war ganz kalt und der „rigor mortis“ vollständig erkannt. Man trug ihn sofort in’s nächste Arbeitshaus, wo ihn einige Minuten darauf ein Arzt besichtigte, Man fand bei ihm ziemlich 100 Thaler in verschiedenen Geldsorten, ein weißes Taschentuch, ein kleines Taschenmesser, einen Hausschlüssel, ein paar Handschuhe, ein Kästchen mit zwei Rasirmessern und ein Stückchen Papier, worauf Name und Wohnung des Todten geschrieben war, wie sich wenigstens nachher bestätigte.

Die übliche Todtenschau ward in Gegenwart eines Bevollmächtigten seiner Familie gehalten. Dabei stellten sich folgende Thatsachen heraus: 1) Der Tafeldecker des Verstorbenen erkannte in dem Leichnam die Person seines Herrn und sagte aus, daß er das Haus zwischen 11 1/2 Uhr, als er ihn zum letzten Male sah, und 12 1/4 Uhr, als er das Haus mit dem Hauptschlüssel verschloß, verlassen haben müsse, und daß er einen schweren Ueberzieher, den er selten trug, mitgenommen.

2) Ein Arbeiter sagte aus, daß er den Leichnam auf dem Rücken liegend zuerst entdeckt habe, mit dem Kopfe gegen einen Ginsterbusch gelehnt und mit den Füßen herabgestreckt nach einem Sumpfe. Er trug alle seine Kleider, die der Arbeiter wieder erkannte, blos der Hut lag neben ihm. Die Haut fühlte er nicht an, so daß er nicht sagen konnte, ob der Leichnam damals schon kalt gewesen.

3) Ein Policeman deponirte, daß am Orte, wo der Leichnam gefunden worden war, nur zwei Stellen bemerkbar gewesen, die eine Bewegung mit den Hacken verriethen; sonst sei keine Spur eines Todeskampfes zu entdecken gewesen. Das Sahnentöpfchen, mit noch etwas Blausäure lag rechts, die entkorkte Flasche links neben ihm.

4) Der Hauptarzt von Hampstead sah den Leichnam 20 Minuten vor 10 Uhr ganz kalt und steif mit starkem Geruche nach Blausäure am Munde, doch sonst ohne Zeichen, daß der Todte als Selbstmörder gelten müsse.

5) Der ein zweites Mal citirte Tafeldecker erkannte das Milchtöpfchen als dasselbe, welches sein Herr den Sonnabend Abend vorher zum Thee gehabt habe. Auch sagte er aus, daß die betreffende Blausäure von dem Apotheker, wo Sadleir seine betreffenden Bedürfnisse holen zu lassen pflegte, mit einer schriftlichen Ordre des Verstorbenen geholt worden sei. Zeuge wußte nicht, daß es Gift war, sondern glaubte, es gehöre zu einem Haaröl, das sich der Verstorbene selbst mischen zu wollen geschienen habe. „Der Verstorbene war mäßig und nüchtern und trank blos ein oder zwei Gläser Sherry zu Mittag. Keine merkliche Veränderung in seinem Wesen, stets sehr geschäftig, nicht geklagt vorher über Schlaflosigkeit oder Kopfschmerz, nicht unter ärztlicher Behandlung. Kam Sonnabends unerwartet zu Tische nach Hause, speiste sonst in der Regel in seinem Klubhause. Verließ das Haus am Sonnabend Morgen in einer Droschke mit vielen Papieren, wie gewöhnlich. Ehe er einstieg, kehrte er noch einmal in sein Zimmer zurück, als ob er etwas vergessen. Einige Minuten, nachdem er weggefahren, kam er noch einmal zurück und blieb einige Momente in seinem Zimmer, fuhr dann wieder weg und kehrte erst Abends zum Diner zurück.

6) Ein Advokat, sehr genau bekannt mit dem Verstorbenen, sah ihn kurz vor 11 Uhr Sonnabend Abends. Er schien niedergeschlagen durch seine Unternehmungen und kam ihm überhaupt abgemagerter vor. Besonders während der letzten Woche hatte er sich verändert. Er sah ganz niedergedrückt aus über den Umfang seiner Geschäfte, besonders über Vorfälle der letzten Woche. Verluste und pecuniäre Verlegenheiten hatten sich plötzlich eingestellt. Seine Augen waren blutunterlaufen und er verrieth ganz ungewöhnliche Unruhe, wie nie zuvor. Zeuge, einmal des Nachts unerwartet zu ihm kommend, fand ihn überrascht, ganz gegen seine Gewohnheit im Zimmer auf- und abschreitend. „Ich glaube, seine Augen roth gesehen zu haben, als wie nach Weinen.“ Gefragt, ob er nicht zu ihm gesagt habe, daß er sich nicht wundern würde, wenn er (Sadleir) sich erschieße, gab er dies zu: „Ich machte diese Bemerkung deshalb, weil ich ihn sonst als einen außerordentlich klaren und willensfesten Mann kannte, der nun gebrochen durch die plötzlichen Entdeckungen vom Mittwoch vorher auch ganz zusammenbrechen werde. Ich hörte, seine Verluste seien ungeheuer. Wir sprachen darüber in meinem Bureau und er gab es zu.“

Der Vorsitzende der Todtenbeschauer sagte, nichts könne klarer sein, als die Ursache des Todes. Es sei vollkommen erwiesen, daß er sich selbst getödtet. Leider sei ihm das Gift ohne Mühe zugekommen, aber die beiden Rasirmesser bei ihm bewiesen, daß er sich unter allen Umständen das Leben genommen haben würde u. s. w.

Auch ergab sich, daß er in ungeheuern pecuniären Verlegenheiten gewesen. Als „Finanzier im gigantischen Maßstabe“ hatte er nicht weniger als die ungeheure Summe von einer Million Pfund Sterling erschwindelt, unterschlagen und durch Betrügereien und falsche Wechsel erlogen. Die Entdeckung einer Hauptbetrügerei war eben unvermeidlich vor der Thür, so daß, wenn er den Montag erlebt hätte, sich sein Palast geschlossen und das Zuchthaus geöffnet haben würde.

Angesichts dieser Thatsachen und Beweise erschien kein Zweifel an dem Selbstmorde des palmerston’schen Collegen möglich. Der Tafeldecker, zwei seiner Brüder und mehrere persönliche Freunde und Bekannte, bei der Todtenschau anwesend, erkannten in dem Leichname den Körper Sadleir’s.

Und doch lösen sich alle diese Thatsachen in Nichts auf vor folgenden Beweisen und Folgerungen.

In einer Zeitung Irlands (Dublin Nation) erschien am 29. März ein Artikel, dessen Hauptinhalt folgender ist:

1) Was ist aus den ungeheuern Geldsummen geworden, die der Verstorbene erschwindelte und die zum Theil baar noch während der letzten Tage in seine Hände kamen? Ein Herr hatte just an dem Sonnabende des Todes 1300 Pfund baar in dessen Hände gezahlt. Davon sei bis jetzt keine Spur gefunden worden. Eine Banknote von 1000 Pfund, die er nachweislich noch an dem Sonnabende besessen, sei nicht aufgefunden. Zu diesen 2300 Pfund baar waren in der letzten Zeit noch andere Baarzahlungen gekommen. Nichts davon sei entdeckt worden. Am Rande des Grabes soll der Selbstmörder alle diese Gelder gesammelt und mit in die Ewigkeit genommen haben?

2) Seine letzten Briefe beweisen, daß er 8 Tage lang mit Selbstmord umging. Während dieser Zeit war er stets damit beschäftigt, sich Geld zu borgen, als ob die Reise in die Ewigkeit sehr viel koste.

3) Die als erwiesen angenommene Todesstarrheit (rigor mortis) wird als Unmöglichkeit nachgewiesen, insofern der aufgefundene Todte der Leichnam Sadleir’s gewesen wäre. Je plötzlicher der Tod, desto länger bleibt die Lebenswärme zurück und verhindert die Leichenstarrheit wenigstens 12 Stunden lang. Der Verstorbene konnte frühestens um 12 Uhr die Hampstead Höhen erreichen. Der Selbstmord kann also nur nach 12 Uhr stattgefunden haben. Und 9 3/4 Uhr Morgens wird der Leichnam kalt und steif gefunden mit entschiedenem rigor mortis. Und dies nach höchstens 8 1/4 Stunden!

4) Dr. Guy sagt in seiner „Gerichtsmedizin“: „Wir sollten uns für gerichtliche, sichere Beweise niemals blos auf das Zeugniß unserer Sinne verlassen (und eben so wenig für jede andere Behauptung oder gar wissenschaftliche Annahme). Es reicht durchaus nicht hin, etwas gesehen, selbst wirklich gesehen zu haben. Das Zeugniß des Auges kann blos gelten, wenn es durch sichere wissenschaftliche Thatsachen und Proben bestätigt wird. Die augenscheinliche Ursache eines Todes ist nicht immer die wirkliche.“ In Bezug auf den Ort heißt es: „Es ist ein ganz gefährlicher Irrthum, zu glauben, daß der Ort, wo ein Leichnam gefunden wurde, auch der Ort sei, wo er um’s Leben gekommen. Gegen das Erkennen eines Lebenden in einem Todten wird Dr. Beck’s Autorität angeführt: „Bald nach dem Tode verändern sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_500.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)