Seite:Die Gartenlaube (1856) 501.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

die Gesichtszüge so wesentlich, daß es oft den nächsten Angehörigen unmöglich wird, den Lebenden darin wieder zu erkennen.

5) Kein aufgefundener Leichnam sollte berührt werden, ehe er von Sachverständigen genau untersucht ward. Die Lage des Todten reicht oft allein hin zu entscheiden, ob er sich selbst oder von Andern gemordet worden sei.

6) Der betreffende Leichnam ward in ein Arbeitshaus gebracht, ehe er von einem Sachverständigen gesehen ward.

7) Der betreffende Leichnam ward von keiner einzigen Person, die irgend eine Eigenthümlichkeit an Gestalt und Bau desselben als nur ihm, dem Verstorbenen, eigen, entdeckt hätte, untersucht und mit dem etc. Sadleir wirklich als identisch nachgewiesen. Der einzige Zeuge, der diese Identität beschwor, war der Tafeldecker, derselbe, der keine Veränderung an seinem Herrn wahrgenommen, während der intime Geschäftsfreund und Advokat positiv behauptete, daß der Verstorbene sich ungeheuer verändert gehabt habe während der letzten Tage und hager geworden. (Ueber das Falsche der erwiesensten, beschwornen Identität nachher noch einige drastische Beispiele.)

8) Vor seinem angeblichen Selbstmorde hatte er einen Brief an seine Schwester geschrieben und sie mit seinem Vorhaben bekannt gemacht. Ist dies psychologisch wahrscheinlich?

9) Warum ging er um Mitternacht zu den entlegenen Hampstead-Höhen, um sich das Leben zu nehmen? Wie unwahrscheinlich, daß er mit dem Vorhaben, sich durch augenblicklich wirkendes Gift zu tödten, erst vorher sich die schwere Mühe eines so fernen mitternächtlichen Spazierganges gegeben haben sollte! Und damit die Leute gleich erfahren sollten: ich bin Sadleir, der die Leute um eine Million betrog, steckte er seine geschriebene Adresse vorher in die Tasche, nicht einmal eine gedruckte oder lithographirte Karte. Hätte er zu Hause das Sahnentöpfchen geleert, würde man eher gerechtfertigt sein, den Todten für Sadleir zu halten. Diese ganze Geschichte hat keinen Sinn.

10) Unter den 2,500,000 Lebenden in London war es leicht genug, jederzeit einen Leichnam für jeden Zweck zu kaufen und ihn theatralisch etwas zu sadleiren. –

Dieser Artikel lief sofort durch alle die unzähligen Zeitungen und Journale Englands. Zwar versicherten der Vorsitzende, der Todtenbeschauer und ein Arzt, es könne kein Zweifel an der Identität des Leichnams und Sadleir’s aufkommen; die Presse nahm aber die Thatsachen und Beweise dagegen mit neuen Illustrationen auf. Die Hast und Eile, womit er am Sonnabende seine Papiere zusammenraffte und weshalb er öfter zurückkehrte, deuten auf Flucht mit der nöthigen erschwindelten Habe, nicht auf Selbstmord. Sein ungeheuer ausgedehntes Schwindelgeschäft mit nachweislich ihm während der letzten Tage gezahlten und geborgten Summen müßten ihn in Besitz einer großen Menge Geldes gesetzt haben, womit eine Flucht sehr leicht ward. Der Mann, dessen Leben die ausgedehnteste Virtuosität im Schwindeln und Fälschen war, setzte zuletzt dieser Virtuosität nur die Krone auf – durch eine Fälschung seiner eigenen Person.

Die Unruhe vorher gegen seine Freunde, die Briefe mit der Meldung, daß er sich selbstmorden wolle, die schriftliche Ordre auf Gift, das silberne Sahnentöpfchen, die romantische Placirung des Leichnams auf die Hampstead-Höhen um Mitternacht – Alles ganz hübsche, melodramatische Erfindungen. Aber eine ganz unscheinbare Kleinigkeit hatte man übersehen. Und diese ganz unscheinbare, aber doch sehr glänzende Kleinigkeit – nämlich reine, gewichste Stiefeln an den Füßen des Leichnams – ist gerade der Hauptbeweis, wie in Mordgeschichten ja überhaupt sehr oft die unbedeutendsten, ganz unbeachteten Nebenumstände eine ganze Kette von Beweisen bilden und sich dem Verbrecher selbst um die Glieder legen, ehe der Häscher des Gefängnisses die staatlichen anlegen kann. Ein Mann, der im Februar um feuchte, schmutzige Mitternacht bis nach Hampstead ging, über feuchten Rasen, über sumpfige Thäler und sich dicht an einen Morast hinlegte, um so den letzten Becher zu leeren, mußte nothwendig schmutzige Stiefeln haben, sehr schmutzige Stiefeln. Der Regisseur dieses Melodrama’s hatte aber diese Grundlage aller Illusion übersehen, und dem gefälschten Sadleir ganz reine Stiefeln angezogen. Oder sollte Einer der Stiefelwichserbrigade, die uns auf der Straße um alle Ecken herum meuchlings anfallen, um uns die Stiefeln zu wichsen, um Mitternacht auf Hampstead-Höhe erschienen sein, um dem Leichnam die Stiefeln zu wichsen?

Diese reinen Stiefeln sind vom Boden her der Kopf und die Krone aller Beweise für die genialste, großartigste, aber doch stümperhafte Selbstfälschung. Der Wiederschein dieser reinen Stiefeln liefert die Spiegelbilder der Wahrheit. Wer daran noch zweifelte, wurde durch einen Brief aus Louisiana in den vereinigten Staaten, an einen Engländer in Tipperary (veröffentlicht zuerst im Cork Examiner) dahin belehrt, daß das Original des gefälschten Selbstmörders in Amerika gesehen worden sei, und sich den Umständen nach wohl befinde.

Aber die Beweise für den echten, todten Sadleir sind ebenfalls unumstößlich und respektabel außerdem! Wer ist nun der wahre Fälscher einer Million, der lebende in Amerika oder der in London begrabene? Wir sagen, wir wissen’s noch nicht: für beide Fälle sind noch andere, sehr starke Beweise da aus andern merkwürdigen Fällen irrthümlicher Identität. Im Jahre 1839 ward in England ein gebundener, in einen Sack gesteckter, mit Wunden bedeckter Leichnam im Wasser gefunden und öffentlich ausgestellt. Er ward von drei verschiedenen Familien als einer der Ihrigen in Anspruch genommen. Dies gab zu scharfen Untersuchungen Anlaß, aus denen sich endlich klar herausstellte, daß der Leichnam ein Vierter war, und keiner der drei Familien angehörte.

Dr. Beck erzählt von einem „Auferstehungsmanne“, wie man die professionellen Ausgräber und Räuber an Leichen nennt: „Er wurde wegen Ausgrabung eines weiblichen Leichnams in Stirling vor Gericht gestellt. Es war neun Wochen nach dem Tode. Aber die Verwandten der Verstorbenen erkannten sie noch sicher, zumal da ein besonderes Kennzeichen (sie war lahm gewesen auf dem linken, kürzeren Fuße) nicht mißverstanden werden konnte. Der Angeklagte ward also verurtheilt, zwar mit Recht, aber doch aus einem ganz andern, dem Gerichte unbekannten Grunde. Der Auferstehungsmann hatte nämlich, wie sich später ganz speciell herausstellte, auch in Falkirk einen weiblichen, ebenfalls auf dem linken, kürzeren Fuße lahm gewesenen weiblichen Leichnam ausgegraben. Wegen dieses letzteren (nicht des ersteren, den man als den letzteren beschworen hatte) war der Mann vermöge eines wenigstens 30fachen, ganz gleichen Irrthums verurtheilt worden.

Noch merkwürdiger ist ein Fall aus Canada. Ein aufgefundener Leichnam wird als der eines ermordeten Mannes, Namens William Morgan erkannt. Seine Frau, sein Hausarzt, intime Freunde und mehrere Andere – Alle beschworen: ja, das ist William Morgan. Er ward also als William Morgan begraben. Kurz darauf erschien ein Aufruf, in den Zeitungen: 100 Dollars Belohnung für den, der den Leichnam des im Niagaraflusse ersäuften Timothy Muaroe entdeckt und abliefert! Die Beschreibung der Kleider und anderer Umstände machten es höchst wahrscheinlich, daß der als William Morgan begrabene Leichnam der Timothy Muaroe’s sein könne. Nach Ausgrabung des Leichnams ergab sich denn auch durch Auffindung der vorher ganz genau angegebenen Kennzeichen, daß William Morgan nicht William Morgan, sondern Timothy Muaroe von Ober-Canada war.

Diese Beispiele beweisen wenigstens, daß die Zeugnisse für die Identität des auf Hampstead gefundenen Leichnams und Sadleir’s von gar keiner sichern Geltung sein können, zumal da alle andern Umstände sehr stark zu dem Verdachte berechtigen, daß der englische Minister und Fälscher einer Million sich selbst gefälscht habe, um im Original sich drüben in einer irdischen bessern Welt noch eine Zeit lang der Früchte seines Schweißes und seiner ministeriellen Verdienste um’s Vaterland incognito zu erlaben.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_501.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)