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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Herzen Luft zu verschaffen, denn er erwartete eine entscheidende Karte.

Es war gewiß nicht mehr die bloße Leidenschaft des Spiels, die ihn in solcher Weise aufregte. Er hatte bedeutend verloren. Die Größe seines Verlustes mußte seine Gedanken weiter getragen, mußte ihn lebendiger zum Bewußtsein gebracht haben, daß er fremdes Geld angegriffen habe, daß er, wenn er es nicht sofort ersetzen könne, verloren sei, daß von dem Fallen der nächsten Karte sein Schicksal abhing. Die Summe, die er auf sie gesetzt hatte, war, siebenfach gewonnen, groß genug, um seinen gesammten bisherigen Verlust zu decken. Gerade darum hatte er wohl so viel auf die eine Karte gesetzt. Gewann sie nicht, so war er mit seiner Familie verloren.

Er sah in seiner inneren Unruhe unwillkürlich auf; sein Blick fiel in das unheimlich lauernde Auge des Doktor Feder, der sich ihm gerade gegenüber gestellt hatte. Sein Gesicht verzerrte sich wie von plötzlichem Schreck und plötzlicher Wuth; doch faßte er sich und starrte wieder auf die Karten. Keine Zehn wollte fallen. Der Banquier zog schneller ab; er war selbst von der allgemeinen Aufregung ergriffen, und strich rasch ein, oder zahlte rasch aus, was auf die andern Karten gewonnen oder verloren wurde. Es geschah Alles schweigend. Jedermann dachte nur an Eins, an die Karte des Domainendirektors, an die entscheidende Zehn. Endlich erschien sie, eine der letzten Karten im Talon; sie gewann – für die Bank.

In demselben Moment begann die Musik in dem Ballsaale nebenan einen rauschenden Galopp.

Der Herr von Grauburg schob das Gold, mit dem die Zehn bedeckt war, der Bank zu. Der Banquier strich es ein.

Eine allgemeine Bewegung, ein allgemeines Gemurmel erhob sich in der Gesellschaft.

Vor dem Herrn von Grauburg lag eine leere Goldbörse. Er faßte in seine Tasche, zog eine zweite gefüllte hervor, und legte sie vor sich an die Stelle der leeren, die er wegnahm. Er war wieder äußerlich vollkommen ruhig, aber seine Gesichtszüge waren sonderbar verzerrt und verschoben. In seinem Innern wüthete nur der Dämon des Spieles, der die von ihm Besessenen mit jener eigenthümlichen, aber fürchterlichen äußern Ruhe zu übergießen vermag.

Die Taille war beendet; der Banquier schickte sich zu einer neuen an; aber der alte Major, der sich über das Septleva geärgert hatte, erhob sich. Es war ein ehrlicher, alter Landwehrmajor.

„Das Spiel wird Hazard,“ sagte er, „das paßt sich nicht; ich verlange Theilung der Bank. Meinen Antheil schenke ich der Armenkasse.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Die Spielgesellschaft erhob sich etwas still; die Worte des alten Majors hatten getroffen.

Ich hatte in der allgemeinen Bewegung den Herrn von Grauburg aus den Augen verloren, und suchte, darüber nachsinnend, ob es ein geeigneter Moment sei, ihn anzureden; jetzt nicht mehr, um ihn vor dem Spiele, sondern vor den Folgen desselben zu warnen. Als ich ihn wieder erblickte, war er schon in der Thür des Zimmers. Neben ihm ging der Amtsrath. Sein Gesicht konnte ich nicht mehr sehen. Beide verließen den Saal. Ihnen nachgehen konnte ich nicht, denn ich wußte nicht einmal, wohin sie sich begaben. Der Demagogenfänger war gleichfalls fort. Auch mich litt es nicht mehr in der rauschenden, fröhlichen Gesellschaft. Immer stand das von der Spielwuth verzerrte Gesicht des Herrn von Grauburg vor mir, und neben ihm die Jammergestalt der nicht mehr schönen und stolzen, aber der armen, unglücklichen Therese. Der Gedanke, daß die heutige Nacht sie völlig elend machen werde, wollte mich nicht verlassen, und erst spät schlief ich mit ihm ein, und erwachte mit ihm spät am andern Morgen.

Es war der Tag vor Weihnachten. Tausend und tausend Menschen erwachten an diesem Morgen mit einem freundlichen Lächeln im Gesichte, mit Freude und Hoffnung im Herzen, Freude die Großen, Hoffnung und Freude die Kleinen. Mir entfloh Lächeln, Hoffnung, Freude. Ich suchte sie zu erzwingen, indem ich an entfernte Lieben, an die Jahre meiner Kindheit dachte. In mein Inneres zog nur mehr Trauer und Sorge ein. Immer sah ich nur das verzerrte Gesicht des Spielers, den Jammer des armen Weibes, den Schmerz ihrer Kinder. Sie hatte herrliche Kinder, hatte mir das Fräulein Gamkow gesagt.

Ich hatte mich kaum angekleidet, und meine gewöhnliche Aktenarbeit begonnen, als ich ein Billet von dem ersten Präsidenten des Gerichtshofes erhielt. Ich erbrach es mit einer traurigen Ahnung. Was ich las, konnte meine Ahnung nur bestärken. Der Präsident theilte mir mit, daß das Regierungscollegium in einer wichtigen und schleunigen auswärtigen Angelegenheit richterlicher Hülfe bedürfe, und zu dem Ende von ihm sich einen Commissarius des Obergerichts erbeten habe, zur gemeinschaftlichen Verhandlung mit den Commissarien der Regierung. Ich habe mich sofort zu dem Vicepräsidenten der Regierung zu begeben, der persönlich die gemeinsame Commission dirigiren, und mir das Nähere über den Zweck mittheilen werde, und dessen Anordnungen und Anweisungen ich in Allem, so weit es die Gesetze gestatten, nachzukommen habe. Uebrigens sei die ganze Sache mit dem größten Amtsgeheimnisse zu behandeln.

Ich war keinen Augenblick zweifelhaft, um was es sich handle. Worin anders konnte, nach der Stellung des Herrn von Grauburg, nach den gestrigen Vorgängen, nach der Wichtigkeit der Angelegenheit, von der das Billet sprach, mein Auftrag bestehen, als einer Revision der Domainenkasse in Vornholz zum Zweck der sofortigen gerichtlichen Feststellung des Thatbestandes eines Defekts, vielleicht noch anderer Verbrechen, beizuwohnen, und zugleich zu den erforderlichen Verhaftungen und zu andern Maßregeln der Einleitung einer Criminaluntersuchung zu schreiten? Nie war mir ein peinlicherer Auftrag geworden. Was sollte ich machen? Ich konnte ihn ablehnen; ich konnte mich auf mein früheres Verhältniß zu dem verstorbenen Vater der Frau von Grauburg und zu dieser selbst berufen. Aber was war dadurch gewonnen? Einerseits war mir die Angelegenheit unter dem Siegel der Amtsverschwiegenheit anvertraut; ich konnte also, auch wenn ich den Auftrag ablehnte, kaum einen Schritt für die unglückliche Frau thun; andererseits blieb bei Annahme des Auftrags manche Möglichkeit, gar Wahrscheinlichkeit, der Armen nützlich zu sein, jedenfalls sie zu trösten, aufzurichten, ihr namentlich im Fall einer Verhaftung ihres Mannes behülflich zu sein bei ihren Einrichtungen für die Zukunft. War wirklich ein Defekt in der Kasse vorhanden und wurde er entdeckt, so war die Folge Cassation und mehrjährige Zuchthausstrafe.

Der Gerichtsbote, der mir das Billet des Präsidenten überbrachte, hatte mir gesagt, daß der Regierungspräsident schon reisefertig sei und auf mich warte. Ich mußte mich sofort auf den Weg machen.

Tausend Gedanken und Pläne, wie zu helfen, zu retten sei, durchkreuzten meinen Kopf. Unmittelbar hätte ich mir dadurch helfen können, daß ich viel Geld mitbrachte, durch welches der aufzufindende Defekt gedeckt und verdeckt werden konnte; aber durfte ich das, und konnte ich das? Ueber das Dürfen kam ich bald mit mir in’s Reine. Ein Verbrechen war für meine amtliche Stellung erst dann da, wenn ich es amtlich entdeckt und konstatirt hatte. Das war noch nicht der Fall. Bis dahin konnte noch keine meiner menschlichen Pflichten mit meinen amtlichen in Konflikt gerathen. Ueber die Sophisterei, die in diesem Raisonnement liegen mochte, setzte mein menschliches Gewissen, mein amtliches Gewissen bald hinweg. Aber woher das Geld bekommen? Es war viel Geld nöthig. Blos nach den gestrigen Verlusten des Herrn von Grauburg mußte ich beinahe tausend Thaler rechnen. Ich besaß keine hundert, hatte auch keinen einzigen Bekannten in der Stadt, von dem ich hätte borgen können; zudem fehlte es an Zeit. Ich konnte unmittelbar nicht helfen. In anderer Weise? Ich mußte es versuchen.

Ich machte einen Umweg zu der Wohnung des Regierungspräsidenten, und ging zu Maria Gamkow, erzählte ihr das Spiel des gestrigen Abends, und theilte ihr das Billet des Präsidenten mit. Ueber diese Verletzung der Amtsverschwiegenheit konnte mein amtliches Gewissen sich durch Sophismen nicht hinwegsetzen; ich mußte es nun einmal damit beschweren. Es war das einzige mögliche Mittel der Rettung, und es konnte Niemandem dadurch geschadet werden.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_508.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)